(Davor: Kritischer Rückblick auf die methodische Vorgangsweise)
Beim Vorgehen in drei Methodenschritten geht es vor allem um die Erschließung der „objektiven Bedeutungsstruktur einer konkreten Äußerung“ (siehe Oevermann 1983, S. 236; ausführlich hinsichtlich der drei Methodenschritte in Kapitel 2.4.7 besprochen). Die hier gerade untersuchte Äußerung ist die Szene der Vier-Personen-Gruppe im Rahmen des gesamten Bildes (Blatt 24.09[.2012]). Dazu wurde methodisch der Umweg über Interpretationsgeschichten eingeschlagen.
In diese interpretativen Geschichten wurden selbstverständlich (subjektive) Assoziationen, Erinnerungen und Phantasien eingearbeitet. Trotzdem kann aus diesem subjektiven Material – eine entsprechende Methodik vorausgesetzt – ein Zugang zur „objektiven Bedeutungsstruktur“ gewonnen werden.
Oevermann grenzt das Verfahren der Objektiven Hermeneutik von jenen Verfahren ab, die sich „primär“ und „nachvollziehend“ auf das (subjektive) Bewusstsein beziehen. Denn den Zugang zum (unvermeidbar subjektiven) Bewusstsein hält Oevermann für nicht „methodisch überprüfbar“ oder unmittelbar zugänglich. Wir können in Köpfe und Herzen der Menschen nicht einfach hineinschauen, auch wenn wir uns (metaphorisch) oft in sie ‚hineinversetzen‘. Methodisch überprüfbar sind demnach nur die manifestierten bzw. objektivierten „Spuren“ und „Ausdrucksgestalten“ subjektiver „Dispositionen“. Diese „Unsicherheit“ auf Grund dieser Schwierigkeit, dass das Subjektive schwer empirisch zu erfassen ist, könne aber umgangen werden, wenn man zuerst die objektivierten Strukturen ermittle, und gestützt darauf, die „Struktur der subjektiven Disposition“ erschließe:
Es ist also ein Verfahren, das sich auf die „verstehbaren“ Gegenstandsbereiche der Sozial‑, Geistes- und Kulturwissenschaften nicht dadurch richtet, daß es, wie alle sonstigen Methoden dieser Wissenschaften, primär deren subjektiven Niederschlag oder subjektive Repräsentanz im Bewußtsein der Handelnden nachvollzieht oder zu erschließen versucht. Das wäre grundsätzlich mit Unsicherheiten behaftet und ein Verfahren, das selbst noch der zu untersuchenden Praxis des Verstehens angehört. Viel mehr macht die objektive Hermeneutik ernst mit den Konsequenzen der grundlegenden Erkenntnis, daß jede subjektive Disposition, d.h. jedes psychische Motiv, jede Erwartung, jede Meinung, Haltung, Wertorientierung, jede Vorstellung, Hoffnung, Fantasie und jeder Wunsch methodisch überprüfbar nie direkt greifbar sind, sondern immer nur vermittels einer Ausdrucksgestalt oder einer Spur, in der sie sich verkörpern oder die sie hinterlassen haben. Zutreffend entschlüsseln läßt sich daher eine solche Disposition erst, wenn man zuvor die objektive Bedeutung jener Ausdrucksgestalt entziffert hat. Erst dann kann man zur begründeten Erschließung der Struktur der subjektiven Disposition selbst übergehen (Oevermann 2002, S. 2).
Die Versuchung mag groß sein, die „subjektive Disposition“ der Zeichnerin direkt zu „verstehen“, wie das jede der ausgewerteten Geschichten phantasievoll, intuitiv „nachvollziehend“ tut.
‚Methodologischer Realismus‘ …
Diese intuitive Methodik hat sich im praktischen Alltag ja häufig bewährt. Die Objektive Hermeneutik schlägt demgegenüber den skizzierten methodischen Umweg als ‚methodologischen Realismus‘ vor (siehe auch das Kapitel 6.6).
Die Tücke und Mühe dieses Umwegs im Vergleich zum raschen alltagspraktischen Denken und Handeln, an das auch viele „verstehende“ Methoden der Sozialwissenschaften direkt anknüpfen (wie Oevermann im Zitat betont), besteht darin, dass die Alltagspraxis des Verstehens mit ihren vielen intuitiven Abkürzungen – jedenfalls den eingefleischten Praktiker*innen – höchst vertraut ist. Demgegenüber ist dieser wissenschaftliche Erschließungsprozess langsamer und scheinbar weniger effizient, und vor allem kaum zu technisieren oder gar zu automatisieren. Oder zugespitzt formuliert: „Forschen bedeutet das Simulieren von Krisen“ (Oevermann 2016, S. 112).
Auf die hier forcierte ‚Logik der Entdeckung‘ ist schon ausdrücklich hingewiesen worden (siehe Oevermann 2016, S. 47 in Kapitel 1.1.4). Diese Logik beruht vor allem auf dem analytischen Paradigma von ‚Krise und Routine‘, das sehr vereinfacht besagt, dass wir Menschen dann, wenn uns vertraute Routinen fehlen, neue Lösungen (er-)finden müssen, wenn wir ein Scheitern vermeiden wollen. In Erschließungsprozessen können wir also auf solche neuen Krisenlösungen stoßen, für die also auch erst Erklärungen zu finden sind.
… zu vertiefter Erkenntnis einer vertrauten Struktur
Der Schwenk zur methodologischen Besonderheit der Objektiven Hermeneutik, wonach die objektiven Strukturen vor deren subjektiven Ausprägungen zu untersuchen sind, erfolgt zur Begründung von Methodenschritt 2:
- Bei diesem Methodenschritt geht es nicht bloß darum, eine Gemeinsamkeit der Geschichten herauszufinden, wie das bei den sechs Geschichten mit ‚Familie‘ bereits geschehen ist.
- Vielmehr geht es zusätzlich darum, die gefundene Gemeinsamkeit „explizit auf ihre gemeinsamen Struktureigenschaften hin“ zu verallgemeinern (siehe Oevermann 1983, S. 237; ausführlicher in Kapitel 2.4.7).
In der Tabelle 1 zur Auswertung der Geschichten ist der erste Teil dieses methodischen Umwegs einsehbar (siehe den Beginn des aktuellen Kapitels 2.4.9). Von Umweg ist hier die Rede, da in dieser Aufbereitung die vielen Besonderheiten und subjektiven Ausprägungen der Interpretationen in den Hintergrund gerückt werden, um letztlich die strukturelle Gemeinsamkeit hinter den sehr unterschiedlichen Geschichten freizulegen.
(Weiter zu: Hinweis: Aufbau eines Theoriehorizonts in Exkurs 3)