(Davor: Pädagogische Offenheit dafür, was konkret zum Fall wird)
Mit der deutlich gewordenen Fähigkeit, eigenständig eine Geschichte zu einem – vermutlich eigenen – Problemthema, und zwar berührend, authentisch und ausdrucksvoll zu verfassen, kommt das Fallverstehen zu seinem tieferen Sinn: Problemen auf den Grund zu gehen, und sie dadurch nach Möglichkeit zu bewältigen.
Hier ist bisher im Übrigen noch nicht gesagt, wer welchen Anteil oder Beitrag zur Problemlösung leistet. Dies ist auch schwer zu sagen, denn die Beiträge liegen auf weitgehend unterschiedlichen Ebenen:
- Da ist die Atmosphäre in der Klasse zu nennen, in der die Geschichte geschrieben wurde, auf einem anregenden Blatt, das bereit lag. Diese Klassenatmosphäre kann sehr vielen Einflüssen unterliegen, die das Gelingen der Problemwahrnehmung und vor allem das Einlassen in die Problembearbeitung beeinflussen können. Es gehört zu den wichtigsten pädagogischen Aufgaben, für eine offene Atmosphäre, in der sich die Schüler*innen eigenständig entfalten können, in die Verantwortung zu gehen.
- In diesem atmosphärischen Rahmen, der aus der Perspektive des Kindes einfach da war, und der jedoch wesentlich von der Schulleiterin mitverantwortet wird, hat das Kind Erna die Initiative ergriffen, das Blatt angemalt und die Geschichte mit bereits ausgeprägten Schreib-, Wort- und Satzbaukenntnissen verfasst, hergezeigt und schließlich in der Mappe gesammelt.
- Maria T. betont überdies, da gäbe es keine „Anweisungen“ (Clip3, Transkript, Abs. 2). Das weist sowohl auf das inspirierende und rahmende pädagogische Konzept ‚Kompetenzmappe‘ als auch auf dafür geeignete Rahmenbedingungen hin.
- Die ‚Reflexionsblätter‘ wie auch die Sammlung in der ‚Kompetenzmappe‘ beruhen letztlich auf einer ‚eigenen‘ grundlegenden Kompetenz des Kindes, die vom Kind sodann eigenständig zur Performanz gebracht wird (sofern die Rahmenbedingungen dies zulassen oder dazu anregen).
- Und schließlich wird das Tun des Kindes – und seine autonomen Entscheidungen dabei – reflexiv begleitet. Das Kind erkennt beim Verfassen eines Blattes, was es selbst, und im Zusammenwirken mit anderen wie auch den Verhältnissen zustande bringt. Sodann kann es stolz auf das selbst Vollbrachte sein, es herzeigen, und in der ‚Kompetenzmappe‘ wiederholt betrachten. So kann es noch selbstbewusster werden, und erkennen worin – konkret – sein Entwicklungsstand besteht.
Diese in der gesamten Studie (von mir) vertretene Auffassung von Reflexivität und Kompetenz, ist von der Haltung und Praxis Maria T.s und ihrer Präsentation inspiriert, aber nicht identisch mit dieser. Die Sichtweise der Studie steht deutlicher (als Maria T. dies expliziert) in einem Kontrast zu dem im Schulwesen üblichen – und auch verordneten – Verständnis von Reflexivität und Kompetenz. Die analytische Kontrastierung zwischen zwei weitgehend konträren Kompetenzverständnissen (familiär: diffus vertrauend und zuversichtlich – versus formal rollenförmig: an schulischen Vorgaben und Standards orientiert) wird von mir als Autor der Studie durch die Forschungsfrage 3 verantwortet und untersucht (siehe Kapitel 1.3).
Fokussiert man auf Eigenständigkeit, könnte sich noch zeigen, dass das Kind Erna mit dieser Geschichte, sein Problem in eigenständiger und kommunikativer Weise bereits in Bearbeitung genommen hat. Die Eigenständigkeit oder Leistungskraft von Kindern weiter zu veranschaulichen (oder im Gespräch in Erwägung zu ziehen) könnte der Grund für die Suche nach einem frühen bunten Blatt sein, zu der die Schulleiterin an dieser Stelle übergegangen ist.
(Weiter zu: Blatt 10.10.2012: Zwei ‚dicke‘ Freundinnen)