(Davor: Knappe sprachliche Erfassung des Bildes)
Das Blatt 18.10.2013 (‚Land Des Rechnens‘) ist zwar rasch – im Augenblick – zu erfassen: Seine Überschrift und Signatur, die Buntheit und Leichtigkeit der verteilten Zahlen und der kurzen Rechnungen, die Zartheit des hellen Blau, und schließlich die Proponentin mit Sprechblase. Jedoch gleichzeitig zur raschen Erfassung des Bildes scheint – verzögert(?) – auch eine rätselhafte Suggestion von der Darstellung insgesamt auszugehen. Dies alles, also der erste Eindruck und die zusätzlich auftauchenden Fragen, regen (oder laden) in rätselhafter Suggestion zu genauerer Betrachtung ein:
Liegt diese rätselhafte Suggestion an den flott und in verschiedenen Farben geschriebenen Zahlen, die zu einem Mittel der Gestaltung werden, also ihren Zähl- und Rechenzweck, aber auch die hellblaue Grundfarbe des Blattes überschreiten? Oder: An der detailliert und gleichzeitig sparsam ausgeführten Gestalt? Oder, wie diese da steht – inmitten von Ziffern, Zahlen und Rechnungen, die sie offensichtlich selbst arrangiert hat?
Liegt das an der Sprechblase, die anscheinend zunächst zu klein für ihren Inhalt war, worauf eine Ausbuchtung hinweist?
Oder liegt Rätselhaftes im Inhalt dieser Sprechblase: „Ich liebe Rechnen“? Oder an der offen gebliebenen Schreibweise: „Liebe“ ist vielleicht – auch – groß geschrieben? Außerdem, wenn die Liebe dem Rechnen gilt, müsste die Person sich doch deutlich ‚ihren‘ Zahlen und Rechnungen zuwenden?
Oder liegt das an den Rechnungen, die man als solche erkennt, die man aber nicht im ersten Augenblick der Begegnung mit dem Bild ausrechnen kann? Das dauert ein wenig länger.
Vielleicht liegt der Schlüssel zum Verstehen dieser rätselhaften Suggestion ja schlicht darin, dass die Urheberin dieses Blattes ihre Fragen, wie das mit Liebe ist, oder welche Überraschungen und Herausforderungen „Land Des Rechnens“ noch birgt, gerne im Dialog klären möchte? Vielleicht schwingt dies (latent) als Uneindeutigkeit – oder Mehrdeutigkeit – mit?
Diese hier soeben eingenommene offene Fragehaltunglegt auch der EXKURS 1 nahe: Mit dieser forschenden Fragehaltung kann dem Eindruck der Rätselhaftigkeit und Suggestion dieses Blattes nachgegangen werden. In diesem EXKURS 1 werden Leitsätze Oevermanns zurAutonomie des Kunstwerks und zu einem Strukturmodell für Bildung vorgestellt. Es beruht auf der postulierten Strukturgleichheit (Homologie) von Prozessen des Kunstschaffens und Bildungsprozessen (siehe Kapitel 1.11). In etlichen Thesen wird aufgeschlüsselt, wie künstlerisches Schaffen in Analogie zu Bildungsprozessen – in Unterscheidung zu Lernprozessen – zu verstehen ist. Dadurch kann der Blick „wie unter einem Vergrößerungsglas“ auf die „Konstitution von Erfahrung bzw. [die] Transformation von Sachvorstellungen in Symbolvorstellungen oder unartikulierter Roherfahrung in interpretierte Erfahrung“ gerichtet werden (Kapitel 1.11.1). Wenn man beim Anblick dieses Blattes derartigen Themen nachgeht, dann hat man sich vermutlich für die Einladung, die in der Suggestion dieses Blattes liegt, bereits geöffnet. Man vermeidet einen ‚halbgebildeten‘ (These 15 in Kapitel 1.11.6) und ‚wissenden‘ oder ‚beurteilenden‘ Umgang. Vielmehr öffnet man sich jenen Aussagen, die latent mitschwingen und in vielen Details – etwa der ‚doppelten‘ Schreibung von ‚Liebe‘ (klein und groß) sichtbar werden. Diese Herangehensweise legt also der EXKURS 1 nahe, der ein ästhetisches Modell in Homologie zu Bildungsprozessen ausführt, wobei die Autonomie des Kunstwerks als Strukturmodell für Bildung betont wird (siehe auch Oevermann 1996, S. v-viii).
Die Proponentin Erna zwischen offener Begeisterung und Bangen?
Ernas Schulleiterin Maria T. hat im Präsentationsgespräch auf Ernas Flow und großen (und doch prekären) Fortschritt hingewiesen (siehe Kapitel 3.11 und dort Abb. 22). Für die Begeisterung, den Flow und die Liebe zum Rechnen sprechen die Buntheit der Zahlen, die Unbekümmertheit der Anordnung der Ziffern und Rechnungen, die strahlenden Haare der sprechenden Figur und deren Positionierung inmitten von ihrem „Land Des Rechnens“. Für ihre Begeisterung und Hingabe spricht auch die große Sprechblase und deren Inhalt: „Ich liebe Rechnen“ begleitet vom Symbol eines Herzens.
Jedoch es zeigt sich (auch) ein mitschwingendes Bangen: Die Figur wirkt, in dem Augenblick, in dem sie von sich in Ich-Form sagt, „Ich liebe Rechnen“ angespannt und starr. So, als ob sie sich gegen etwas behaupten müsste. Außerdem spricht die Sprechblase gleichsam hinter ihrem Rücken oder aus ihrem Haar hervor, als ob jemand anderes dies sagte – es ihr vielleicht aufträgt? Und obwohl die Ich-Figur sich breit hinstellt in dieses „Land Des Rechnens“, sich gleichsam aufspannt (wie ein Regenschirm oder ein Vogel im Flug), wirkt sie auch zart und schmal, ein Windstoß würde sie möglicherweise aus dem Gleichgewicht bringen oder verwehen.
Vielleicht liegt der Eindruck der Zartheit auch daran, dass die Ich-Figur ohne Boden unter den Füßen gezeichnet ist. Ähnliches gilt auch für alle anderen Darstellungselemente, ihr Untergrund ist nur das zarte Himmelblau des Zeichenblattes.
So betrachtet, wirkt die empfundene, rätselhafte Suggestion zunächst durch Un(ter)bestimmtheit oder Mehrdeutigkeit, was nach genauerer Bestimmung verlangt.
Ein ‚X‘ – das erst zu bestimmen ist
Mir fällt beim Schreiben dieser Zeilen – also reflexiv – auf, dass sich beim Verfassen der beiden vorangehenden Seiten die Fragezeichen gehäuft haben, und dass sich Un- oder Unterbestimmtes oder Mehrdeutigkeit ‚gezeigt‘ hat. Was ist hier (noch) fraglich? Was steht hier – latent – (noch) unklar im Raum? Und wie kommt es dazu, dass diese Unklarheit oder diese Fraglichkeit auf mich gleichsam übergreift? Mich zum Weiter-Fragen und Nach-Fragen bewegt? Mich zum Weiter-Denken, also zum Antwort-Suchen anregt? Kurz: Mich (als Betrachter) suggestiv einbezieht?
Im Glossar methodologischer Grundbegriffe (siehe Kapitel 6),heißt es zu derartigen Fragen: Ein sprachfähiges Subjekt könne auf Ungewisses nicht nicht reagieren, es müsse das Unbekannte ‚X‘, sprachlich über ‚X‘ hinausgehend klären. Wobei ‚X‘ eine Krise sei, die eine Krisenlösung eine ‚Prädikation‘ (‚P‘) erheischt, sodass man schließlich sagen kann: X ist ein P. Dadurch wäre also das zunächst fragliche (unbestimmte) X bestimmt oder prädiziert als ein P (siehe Kapitel 6.8.1 sowie Oevermann 2016, S. 46-63).
Nun sei in dieser kleinen Metabetrachtung auch noch das Übergreifen der Unklarheit, die sich zuvor in gehäuften Fragezeichen geäußert hat, als Ergebnis einer Suggestion bezeichnet, die von diesem Blatt ausgeht. Dieser Suggestion soll mit den Mitteln der Objektiven Hermeneutik tiefer auf den Grund gegangen werden, sodass eine Erklärung der geheimnisvollen Kraft dieses Reflexionsblattes (und des vermutlich mitwirkenden pädagogischen Konzepts) gelingen möge.
Zu untersuchende Mehrdeutigkeit
Der Begriff der Mehrdeutigkeit ist selbst doppeldeutig. Mehrdeutigkeit kann daher rühren, dass Verschiedenes angedeutet wird, oder aber, dass etwas unterschiedlich gedeutet wird.
Am Beispiel der gezeichneten Figur in Blatt 18.10.2013 heißt das einerseits, die Figur bringt Verschiedenes – angedeutet – zum Ausdruck: In den klaren Worten und der entschlossenen Körperhaltung schwingt auch Unsicherheit mit.
Andererseits könnte man gerade an die gezeichnete Gestalt verschiedene Deutungen (von außen projizierend) herantragen: Diese Gestalt wirke in ihrer Zartheit voller Energie; oder sie sei zart, auch wenn sie sich bemühe energisch zu wirken usw. Überdies wäre es schwierig, aus den vielen Deutungen bloß eine hervorzuheben. – Die Mehrdeutigkeit des zu untersuchenden Gebildes scheint jedoch in dessen Struktur (also immanent) begründet, und methodisch nachweisbar, und folglich im Verständnis der Objektiven Hermeneutik ‚objektiv‘ vorhanden zu sein.
Die Mehrdeutigkeit dieses (gesamten) Blattes 18.10.2013 zum ‚Land Des Rechnens‘ (also nicht nur der gezeichneten Gestalt) kann zwar durch sprudelnde Assoziationen von Interpret*innen verstärkt oder auch gemäßigt werden. Aber entscheidend für eine nachvollziehbare Rekonstruktion ist letztlich, ob und wie diese anscheinend suggestiv wirkende Mehrdeutigkeit empirisch und methodisch erfasst und erklärt wird. Dabei werden die objektiviert vorliegenden Ausdrucksgestalten, die das Kind Erna mit ihrer rechnenden und zeichnenden und reflektierenden Handlungspraxis kreiert hat, auf entsprechende Strukturen hin untersucht. Von der Realität dieses offensichtlich bedeutungsvoll gestalteten Blattes, geht die zur Anwendung kommende Methodik aus, daher wird immer wieder auf Fakten des Bildes hingewiesen. Das heißt, der Eindruck der Mehrdeutigkeit und Suggestion wird als Faktum, das in den Ausdrucksgestalten dieses Bildes vorhanden ist, untersucht.
Regeln hinter der Erzeugung von Bedeutungsstrukturen
Die zu untersuchende Mehrdeutigkeit (und ihre zu Suggestivität und Rätselhaftigkeit gesteigerte Wirkung) wird also demnach als ein dem Blatt objektiv eingeschriebenes Faktum, und nicht bloß als eine interpretative (konstruktivistisch verstandene) Zuschreibung aufgefasst: Die Mehrdeutigkeit der vorliegenden Bedeutungsstrukturen – sowohl des gestalteten ‚Landes‘ als auch der Figur mit Sprechblase – beruht demnach auf Regeln, die wir als auffällige und suggestive Pose der Mehrdeutigkeit einerseits intuitiv in ihrer Wirkung (mehr oder weniger bewusst) als Suggestion wahrnehmen können. Andererseits können wir in einem Rekonstruktionsprozess jene Regeln nachweisen, auf denen die suggestiv und mehrdeutig wirkenden Ausdrucksgestalten beruhen. Dieser Nachweis wird in der Objektiven Hermeneutik durch die Sequenzanalyse erbracht, die schon mehrfach dargelegt wurde (etwa in Kapitel 2.2, siehe auch 6.9). Hier erfolgt ein neuerlicher Hinweis, in dem postuliert wird, dass Sequentialität sowohl „die protokollierte Wirklichkeit als auch die Protokolle dieser Wirklichkeit“ prägt. Auf die (objektiv vorhandenen) Ausdrucksgestalten dieser Prägung greift sodann die Sequenzanalyse zu:
Das Herzstück der objektiven Hermeneutik auf der Verfahrensebene ist die Sequenzanalyse […]. Die Sozialität von sprachbegabten Menschen ist grundsätzlich als dem Modell regelerzeugter Sequentialität folgend vorzustellen. Diese Sequentialität prägt sowohl die protokollierte Wirklichkeit als auch die Protokolle dieser Wirklichkeit, wenn sie ihr halbwegs entsprechen sollen. Diese Sequentialität beschränkt sich also nicht […] auf die Banalität eines bloßen temporalen Nacheinander, sondern besteht in einer algorithmischen „Zwangsläufigkeit“. Jede Sequenzstelle ist gewissermaßen doppelt markiert: Sie beschließt einerseits vorausgehende regelgenerierte Eröffnungen von Möglichkeiten und eröffnet andererseits für die Zukunft neue Anschlussmöglichkeiten (Oevermann 2013, S. 89f.).
Ich halte es übrigens für naheliegend, dass ein Kind beim Zeichnen oder Schreiben – Strich für Strich – ahnt, dass es eine eröffnete Möglichkeit geschlossen hat, und gleichzeitig eine neue Möglichkeit eröffnet hat. Und manchmal kommt es zur Auffassung, dass etwas zu groß oder zu klein, zu dick oder zu dünn geraten ist, die gezeichnete oder artikulierte Gestalt also eine andere Dynamik oder Aussage konstituiert, als beabsichtigt war. Das fällt in der Zwischenbetrachtung dem handelnden Subjekt auf und führt (in der Handlungspraxis) vielleicht zu Korrekturen oder entsprechenden Fortsetzungen. Auch der häufige Farbwechsel in Blatt 18.10.2013 (‚Land Des Rechnens‘) deutet vielleicht darauf hin, dass diese Möglichkeiten reflexiv bewusst werden. Im Analysevorgang hingegen führt es ‚nur‘ zu Anmerkungen oder Schlüssen in der weitergehenden Analyse.
Deshalb handelt es sich hier, bei den sogenannten konstitutiven Regeln im Sinne von Searles Sprechakttheorie, auf eine nur scheinbar paradoxe Weise um Algorithmen, die sowohl restringieren und festlegen, insofern also „etwas erzwingen“, als auch ermöglichen und damit Neues schaffen. Aus dieser doppelten Markierung von Beschließung und Eröffnung ergibt sich für die Analyse eine Verdopplung der Ebenen. An jeder Sequenzstelle müssen nämlich zwei rekonstruktionslogische Operationen durchgeführt werden: Zum einen müssen die durch Erzeugungsregeln generierten eröffneten Möglichkeiten des Anschließens an das Vorausgehende expliziert werden, zum anderen bezogen darauf die zu einer Beschließung führenden, Wirklichkeit herstellenden Vollzüge der Praxis, die sich als Auswahlen aus den Möglichkeiten darstellen lassen (Oevermann 2013, S. 90).
Diese Erwägungen werden nun in einem methodischen Postulat weitergeführt und zugespitzt formuliert:
(Weiter zu: Methodisches Postulat zur (Re-)Konstruktion der Entstehung von Ausdrucksgestalten)