(Davor: Lebenspraxis als ‚Einheit des Lebendigen‘ (6.7.1))
Autonomie der Lebenspraxis wird in der objektiven Hermeneutik als widersprüchliche Einheit von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung gefaßt. Gemeint ist damit, daß jede mit Subjektivität ausgestattete Handlungsinstanz sich in manifesten Krisensituationen, in denen die alten Routinen gescheitert sind, zu einer Krisenlösung entscheiden muß, obwohl geprüfte Begründungen und Argumente noch nicht zur Verfügung stehen. Dennoch aber muß diese Entscheidung mit dem Anspruch auf grundsätzliche Begründbarkeit getroffen werden. Im Vollzug solcher krisenhaften Entscheidungen in eine offene Zukunft konstituiert sich die Autonomie der Lebenspraxis (Oevermann 2002, S. 11).
„Autonomie der Lebenspraxis“ wird hier nicht wie eine fassbare Substanz oder wie ein beschreibbarer eindeutiger Zustand oder eine Qualität von hohem Wert definiert, sondern als „widersprüchliche Einheit von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung“. Man könnte auch sagen, Autonomie wird als etwas Dialektisches definiert, insofern die zur Definition verwendeten Begriffe einander tendenziell ausschließen oder zumindest relativieren: Entscheidungszwang bedeutet, dass es für das praktische (handelnde) Subjekt unausweichlich ist, sich im Fluss seiner (Handlungs-)Praxis fortwährend zu entscheiden (auch wenn dies oft wie selbstverständlich abläuft). Zwang schließt tendenziell Freiheit aus, nicht jedoch jene, die man (logischerweise) zur Entscheidung braucht (sonst wär es ja keine Entscheidung). Also ist hier ein anderer Zwang angesprochen, nämlich jener zu Handeln (allenfalls dabei ein Risiko einzugehen) und sein Handeln im Bewusstsein einer Begründungsverpflichtung – auch wenn diese erst im Nachhinein einlösbar ist – durchzuführen. Auch, dass „eine mit Subjektivität ausgestattete Handlungsinstanz“ zur Entscheidung gezwungen sein könnte, anstatt sich (von vornherein bereits rational) begründet zu entscheiden, erscheint paradox. Dass jedoch der Widerspruch, genauer seine einander widersprechenden Teile, nicht nur eine Einheit ergeben, sondern auch etwas Neues hervorbringen (können), darin besteht ihre Dialektik. (Wobei eine Lebenspraxis in der manifesten Krisensituation auch scheitern kann.)
Zur Erklärung einer derart paradoxen, als „widersprüchliche Einheit von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung“ aufgefassten Situation, in welcher sich ein Subjekt befindet, wird eine „manifeste Krisensituation“ angeführt. Wie ist das zu verstehen?
(Weiter zu: ‚Manifeste Krisensituation‘ – ‚offene Zukunft‘ – ‚Krisenlösung‘ (6.7.3))