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‚Krisentypen‘ (6.8.4)

(Davor: ‚Forschen‘ als Simulation von Krisen (6.8.3))


Die folgenden drei Krisentypen sind so formuliert, dass dabei klar wird, dass ein Subjekt – genauer eine Lebenspraxis – diese Krise (a) erleidet, (b) zulässt oder sie (c) durch hypothetische Alternativen herbeiführt. Die jeweilige theoriesprachliche Definition ist insofern wichtig, als dieselben Worte in unterschiedlichen Disziplinen unterschiedliche Bedeutungen aufweisen und keine sich mit dem Begriffsrepertoire der Objektiven Hermeneutik völlig deckt, so ist etwa die „traumatische Krise“ nicht mit einer Verletzung gleichzusetzen, wie die folgende krisentheoretische Definition gleich zeigen wird, was im Übrigen analog auch für die beiden anderen Krisentypen der Objektiven Hermeneutik zutrifft:

(a) Die ‚traumatische Krise‘ konstituiert ‚Natur- und Leiberfahrung‘:

Die traumatische Krise, in der wir von einem unerwarteten Ereignis oder Zustand überrascht werden, sei es schmerzhaft oder ekstatisch und glückhaft. In ihr konstituiert sich die Natur- und die Leiberfahrung (Oevermann 2016, S. 63).

Die so verstandene „traumatische Krise“ wird nicht vom Subjekt selbst ausgelöst, sondern durch ein äußeres Ereignis herbeigeführt, was zu einer Überraschung und auch Erschütterung führt, dies ist jedoch nicht (unbedingt) als Verletzung oder Schädigung zu betrachten, darauf weist „ekstatisch“ oder „glückhaft“ deutlich hin. Als Folge dieser überraschenden und erschütternden Krise sieht die Objektive Hermeneutik die Konstitution der „Naturerfahrung“, wenn es sich um ein Naturereignis handelt, das kann zum Beispiel ein Schneesturm oder auch ein Sonnenuntergang sein, den das Subjekt überwältigend empfindet; auch die „Leiberfahrung“ konstituiert sich demzufolge in entsprechenden Ausnahmesituationen, in denen die eigenen Möglichkeiten und Grenzen neu wahrgenommen und konstituiert werden.

(b) ‚Krise durch Muße‘ – ‚ästhetische Erfahrung‘

Die Krise durch Muße, also die Krise, die sich dadurch herstellt, daß wir etwas in der erfahrbaren Welt als Selbstzweck, um seiner selbst willen, wahrnehmen, worin wir also die Wahrnehmung von etwas unpraktisch zur selbstgenügsamen Handlung erheben und nicht als eine Phase eines praktischen Handelns vollziehen. Unter dieser Bedingung einer müßigen Wahrnehmung von etwas wächst die Wahrscheinlichkeit, daß wir an einem sonst bekannten Gegenstand etwas Neues, Überraschendes entdecken, daß wir nun, ob wir wollen oder nicht, bestimmen müssen. In dieser Krise konstituiert sich die ästhetische Erfahrung (ebd. S. 63f.).

Typisch für die „Krise durch Muße“ ist demnach eine „selbstgenügsame Handlung“ einer Lebenspraxis bzw. eines Subjekts. Eine in Muße vollzogene Handlung ist der Hauptseite nach nicht einem praktischen Zweck untergeordnet, sondern gerät zum Selbstzweck, die Handlung und Wahrnehmung kann auch den zunächst verfolgten Zweck aus der Aufmerksamkeit verlieren und so zu Neuem (ver-)führen. Was wiederum dazu führt (reizt), das noch Unbestimmte, näher zu bestimmen. Im Zuge dessen konstituiert sich „ästhetische Erfahrung“. 

(c) Die ‚Entscheidungskrise‘

Die „Entscheidungskrise“ wird in Oevermanns Krisentheorie idealtypisch als „selbsterzeugt“ ausgewiesen. Demgegenüber werden bei den beiden erstgenannten Krisentypen die äußere oder innere „Erfahrungswelt“ gleichsam in das „erkennende Bewusstsein“ einwirkend („eindringend“) gedacht. Bei der durch „Entscheidung“ herbeigeführten „Krise“ wird – in Unterschied zu jenem Entscheidungsbegriff, der durchgängige bzw. abwägende Rationalität postuliert, –  der Mensch in seiner Fähigkeit, „hypothetische Möglichkeiten“ als „Alternanten einer möglichen Zukunft zu  konstruieren“ betont; zwischen diesen selbsterzeugten Alternativen erfolgt die Entscheidung:

Während in diesen beiden Krisentypen [(a) traumatische Krise und (b) Krise durch Muße] die Erfahrungswelt gewissermaßen krisenerzeugend auf das erkennende Bewußtsein eindringt, verhält es sich im dritten Typus, der Entscheidungskrise, als dem Prototyp von Krise überhaupt, umgekehrt, denn das Wort Krise stammt aus dem Griechischen und heißt darin nichts anderes als Entscheidung. Hier erzeugen wir die Krise selbst, in dem wir hypothetische Möglichkeiten, also Alternanten einer möglichen Zukunft konstruieren, zwischen denen wir dann gemäß dem unabweisbaren Prinzip, daß man sich nicht nicht entscheiden kann, eine Entscheidung treffen müssen (ebd. S. 64).

Hier wird der spezifische Entscheidungsbegriff von Oevermanns Krisentheorie bzw. dem Paradigma von „Krise und Routine“ hervorgestrichen, und mit einer Charakteristik der „genuinen Entscheidungssituation“ begründet, in der für die „Lebenspraxis“ keine rationale „Richtig-Falsch-Berechnung“ möglich sei; vielmehr handle es sich nur dann um ‚echte‘ Entscheidungen, wenn diese „ins Ungewisse“ bzw. eine „mögliche Zukunft“ führen würden. Solche Entscheidungen könnten nicht vorher rational abgeklärt werden:

Eine genuine Entscheidungssituation liegt nun, in scharfer Differenz zum Entscheidungsbegriff etwa in den Wirtschaftswissenschaften, nur dann vor, wenn eine Lebenspraxis über eine Richtig-Falsch-Berechnung für die zu treffenden Entscheidungsalternanten nicht verfügt, die Entscheidung also ins Ungewisse hinein, ohne explizite Begründbarkeit getroffen werden muß, der Anspruch auf Begründbarkeit aber dennoch aufrechterhalten werden muß. Er ist nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben (ebd. S. 64).

Der „Anspruch der Begründbarkeit“ ihrer Entscheidungen würde aber von der Lebenspraxis „aufrechterhalten“, also sei dieser Anspruch in der Handlungssituation nur „aufgeschoben“.


(Weiter zu: ‚Krise‘ als Scheitern von ‚Routinen‘ (6.8.5))