Fokussierung
Die Studie widmet sich der Erforschung früher selbstreflexiver Werke eines Kindes in der Schule (in der Studie Erna genannt). Erna hat auf farbigen Zeichenblättern, angeregt durch eine offene pädagogische Portfoliopraxis, sich und ihre Fortschritte inmitten ihrer Aufgaben dargestellt, kommentiert, und diese ‚Reflexionsblätter‘ in ihrer ‚Kompetenzmappe‘ gesammelt. Eine objektiv-hermeneutische Fallrekonstruktion fokussiert auf (1.) die werkimmanente Prägnanz und Autonomie dieser Reflexionsblätter, (2.) die Prämisse einer grundlegenden, bereits in die Schule mitgebrachten Kompetenz, die auf „diffusen Sozialbeziehungen“ in familiärer Sozialisation beruht, sowie (3.) die Bewährungsaufgabe, die sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen dieser (mitgebrachten) Kompetenz einerseits, und andererseits der „rollenförmigen“ Kompetenzanforderung der Schule ergibt (vgl. Oevermann 2014a).
Methodologie
Besondere Aufmerksamkeit gilt der Frage nach der Angemessenheit der einzusetzenden wissenschaftlichen Theorie, Methodologie und Methodik. Zum Einsatz kommt schließlich die ‚Klinische Soziologie‘ auf Basis der Objektiven Hermeneutik (Oevermann 2002) im analytischen Paradigma von ‚Krise und Routine‘ (ders. 2016) in Form einer sequenzanalytischen Fallrekonstruktion (ders. 2000). Dabei wird Bezug genommen auf Oevermanns Ästhetiktheorie (ders. 1996) und die Sozialisationstheorie (ders. 2004 und 2014a), sowie auch auf die revidierte Professionalisierungstheorie (ders. 1996a und 2008). Den in der Praxis gefundenen Krisenlösungen wird analytisch auf Augenhöhe begegnet, wobei das naturwüchsige Fallverstehen eines Kindes und das naturwüchsig professionalisierte Fallverstehen einer Pädagogin (Ernas Schulleiterin) ‚bloß‘ wissenschaftlich expliziert wird.
Zentrales Postulat
Die Studie postuliert, dass insbesondere vergegenständlichte Manifestationen von autonomen Bildungsprozessen (wie die untersuchten Reflexionsblätter) wichtige Ressourcen darstellen, die gegenwärtig im Schulwesen brach liegen. Die Erschließung des Datenmaterials anhand der angeführten Fragestellungen kann – so lautet eine zentrale These – zu einem besseren Verständnis dieser Ressourcen sowie ihres Stellenwerts im Rahmen eines autonomen Arbeitsbündnisses zwischen den Lehrkräften und ihren Schüler*innen beitragen. Beides möge die Grundlagen für nachhaltige Innovationen im Bildungswesen verbessern.
Wesentliche Ergebnisse
Zu den wesentlichen Ergebnissen der Studie zählen:
- In mehreren Zeichnungen und Reflexionsblättern wird ein ‚frühes’ Spezifikum der sich sprunghaft bildenden Fallstruktur in der Lebensphase des Schuleintritts herausgearbeitet, nämlich Posen deutlicher Mehrdeutigkeit. Die Betrachter*innen derartiger Posen werden eingeladen, die Deutung der Rätsel der Welt gemeinsam mit der Proponentin zu betreiben. Diese Posen können in ihrer objektiv latenten Struktur auf das Zusammentreffen von drei Medien der Sinngenerierung (Farbe, Bild, Schriftsprache) zurückgeführt werden.
- Die Zeichnung: ‚Ich und meine Familie‘, der sechsjährigen Erna wird mit einer zentralen Erkenntnis aus Oevermanns strukturtheoretischen Forschungen zur ‚familialen ödipalen Triade‘ kontrastiert, wonach Kinder drei voneinander unabhängige Krisenkonstellationen ertragen müssen. Erna ist mit eigenen Bordmitteln in der Lage, strukturell ähnliche Krisenkonstellationen zur Darstellung zu bringen. Dies wird in einer Theorie und Praxis kontrastierenden Bild-Schrift-Kollage aufgezeigt.
- In einem Reflexionsblatt zum Thema ‚Land Des Rechnens‘ zeichnet sich die siebenjährige Erna etwas unsicher und doch selbstbewusst, wie sie ‚ihren‘ Zahlenraum unter Anwendung von Rechenregeln darstellt. Dabei integriert sich das Mädchen also als ‚etablierte‘ Schülerin in die Welt der Aufgabenstellungen des Schulfaches Mathematik, mit Rechnungen, die sie selbst erfindet. Sie greift die pädagogische offene Aufgabenstellung zu fachlicher Reflexion persönlich auf.
- Die Lösung des Falles, nämlich die Transformation vom ‚Kind in der Schule‘ zur – in Autonomie – ‚etablierten Schülerin‘ erweist sich im Zuge der Rekonstruktion weiterer Werke, die in unterschiedlichen Medien ‚für sich sprechen‘, als valide.