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Ein beiläufiger Schnappschuss in die Kompetenzmappe

(Davor: Frühe Arbeit – Späte Aufmerksamkeit für diesen ‚Schatz‘)


Jene Spuren, welche durch die (eilige) fotografische Datensicherung entstanden sind, müssen beim Analyseprozess, der ja der Arbeit der Schülerin gilt, herausgehalten werden, das gilt auch für Spuren der Aufbewahrung des Blattes in der Mappe (Abb. 8).

Abbildung 8: Blatt 01.10.2012: Reiten. Foto; Blatt in Hülle; verkleinert

Die Spuren der Datensicherung sollten sich, zumal mehrfach darauf hingewiesen wird, als nicht allzu störend für den eigentlichen Rekonstruktionsprozess dessen, was im Blatt zum ausgewiesenen Fertigstellungstermin (01.10.2012) ausgedrückt ist, erweisen. Die Schulleiterin Maria T. hat die Mappe Ernas jeweils nur kurz aus der Hand gegeben. Ich hatte den Eindruck, Maria T. hüte das Eigentum ihrer Schülerin als deren – aber auch als ihren pädagogischen – Schatz. So, wie ich von der Präsentation allerdings eine Videoaufnahme machen konnte, waren mir auch später Schnappschüsse in die Mappe gewährt. Auf diese Weise gelangten schließlich Blatt 01.10.2012 (Reiten), und später auch Blatt 6.5.2013 (‚Dromeda‘), in den Untersuchungsfokus. Beide Blätter hatten also während der Präsentation der Mappe keine Erwähnung gefunden. In anderen – statistisch geprägten – Forschungsstrategien würde man dies vielleicht Kontrollgruppe nennen. Hier wird lediglich darauf hingewiesen, dass keine spezifischen, sondern lediglich allgemeine Informationen zu diesen beiden Blättern vorliegen.

Einblicke in die rätselhafte Lebensrealität verschiedener Praxen

An der bescheidenen Wiedergabequalität lässt sich verdeutlichen: Als Forscher habe ich nur sehr bruchstückhafte Einblicke in die Lebensrealität jenes Mädchens, aber auch jener Schule und ihres pädagogischen Konzepts, deren protokollierte Spuren (und Werke) ich untersuche. Umso wichtiger dürfte es sein, den (kleinen) protokollierten Ausschnitt der Lebensrealität methodisch so gut wie nur möglich auszuwerten, und für sich sprechen zu lassen.

Bei der beginnenden Analyse dieses Blattes musste ich manchmal – wegen wechselnder und rätselhafter Eindrücke – mehrfach hinschauen, oder erste Schlüsse wieder revidieren. Das führte dazu, dass ich mich zu methodischer Langsamkeit mahnte. Diese ist ohnehin ratsam für das Sicherstellen einer sorgfältigen und nachvollziehbaren Analyse.

Der Schnappschuss des Forschers

Und zwar zum einen Einblicke in die Praxis des Sammelns und vermutlich auch des Erstellens von Blättern, die zum pädagogischen Konzept der Kompetenzmappe ‚passen‘ oder sogar eingefordert, oder auch von diesem Konzept inspiriert werden. Das Blatt ist beim Fotografieren in der Klarsichthülle und im geöffneten Ordner verblieben (Abb. 8). Allerdings sieht man vom Sammelordner lediglich, dass es ein Vierfach-Ringordner sein dürfte, denn die Ringe werfen am oberen Rand vier Schatten. Außerdem ist das Blatt in einer Klarsicht- bzw. Prospekthülle mit gelochtem Rand. Man könnte daraus schließen, dass das für eine Schulanfängerin ein gewichtiger Hinweis auf Ordnung aber auch auf die Wichtigkeit des zu sammelnden Inhalts ist.

Entwicklungsprozesse des Zeichnens und Malens

Zum andern könnte gerade dieses frühe Blatt – es ist am 1. Oktober 2012, kaum drei Wochen nach dem Eintritt des Mädchens in die Schule entstanden – vermutlich Aufschlüsse über einen probierenden, frühen und unerfahrenen Zustand der Verfasserin gewähren. Aus suchender, deutender Perspektive ist es meist besonders interessant, wenn ein zu analysierendes Dokument Einblicke in seinen Entstehungsprozess zulässt.

Bei der Erforschung von Prozessen, die im konkreten Datenblatt von Interesse sein könnten, bietet sich eine Unterscheidung zwischen dem Mal- bzw. Gestaltungsprozess einerseits und andererseits der ontogenetischen Entwicklungsphase der Urheberin des datierten Bildes an. Erna ist ja zu diesem Zeitpunkt gerade erst (wenige Wochen zuvor) in die Schule eingetreten. Das wiederum bedeutet, dass sie erst am Beginn des umfassenden Erwerbs der Kultur der Schriftsprache steht.

Wechsel in die Großorganisation Schule

Aber auch der Wechsel von gewohnten, vermutlich familiären Verhältnissen zur Großorganisation Schule mit ihren spezifischen (rollenhaften) Anforderungen sei in dieser Entwicklungsphase hervorgehoben. Meist wird in diesem Zusammenhang von speziellen Herausforderungen an das Sozialverhalten eines Kindes gesprochen. Die Formulierungen dazu bleiben hier ausdrücklich sehr allgemein bzw. vage, denn die vermuteten Entwicklungen in dieser Übergangsphase sollen ja allenfalls (konkreter) aus dem Analysematerial ‚herausgelesen‘ werden. Also bleiben auch die Annahmen (siehe Kapitel 2.1), die neben den Forschungsfragen zur Bündelung der Aufmerksamkeit im Analyseverlauf beitragen sollen, ziemlich allgemein.

Der Reiz eines sehr frühen Blattes

Dieses Blatt birgt bereits in der Annäherung viele Merkwürdigkeiten, was den Reiz, es als erstes Blatt einer genauen Betrachtung zu unterziehen, erhöht. Dies hat mich dazu bewegt, mit besonderer Sorgfalt eine exemplarische Analyse dieses Blattes 01.10.2012 (Reiten) zur Darstellung zu bringen.


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