(Davor: Ebene 2: Zweckfreie Gemeinschaften als soziologischer Grundbegriff)
Im Rahmen der Drei-Ebenen-Architektur der hier abgehandelten Sozialisationstheorie Oevermanns, die auch grundlegend für sein Soziologieverständnis ist, in welchem das Modell zweckfreier Gemeinschaften sowie reziproker Sozialität zentral ist, soll hier die (Meta‑)Ebene 3 weiter ausgeführt werden, indem die Abgrenzung gegenüber einer generalisierten Rollentheorie betont wird.
‚Universe of Discourse‘
Die Bezeichnung ‚Meta‘ habe ich der ‚Ebene 3‘ vorangesetzt zu (Meta‑)Ebene 3, um eine knappe Unterscheidung gegenüber der (Mikro‑)Ebene 1 und der (Makro‑)Ebene 2 einzuführen. ‚Meta‘ soll demnach symbolisieren, dass es auf dieser „Ebene der Zugehörigkeit“ um große reflexiv und diskursiv zugängliche Fragen geht; und zwar, um Fragen nach Herkunft und Zukunft der Gattung Mensch und um Fragen der Legitimation eines „der Rechtssetzung fähigen souveränen Herrschaftsverbandes“ im Rahmen eines diskursiven Universums (‚universe of discourse‘; siehe Oevermann 2014a, S. 39-41 sowie Oevermann 2009, S. 53f.).
‚Gesellschaft‘ eine Ableitung von ‚Gemeinschaft‘
Das Modell, dem zu Folge ‚Gemeinschaft‘ als der grundlegende Begriff eines soziologischen Sozialisationsverständnisses zu gelten hätte, während ‚Gesellschaft‘ eine Ableitung bzw. ‚Realabstraktion‘ von ‚Gemeinschaft‘ darstelle, tangiere auch die Konstitution der ‚klassischen‘ Soziologie und speziell den Stellenwert der ‚Rollentheorie‘, die wissenschaftshistorisch für die Abgrenzung der Soziologie einerseits von der Philosophie und andererseits von der Psychologie wichtig („von unschätzbarem Wert“) gewesen sei:
In der klassischen Soziologie war der Begriff der Rolle konstitutionstheoretisch von unschätzbarem Wert. Seine Funktion bestand wesentlich darin, die Strukturidentität von sozialen Beziehungsformen zu bestimmen, d.h. das Sich-Gleich-Bleiben sozialer Verhältnisse unabhängig vom Wechsel des Personals angemessen ausdrücken zu können. In dieser Funktion leistete der Begriff einen wesentlichen Beitrag in der Etablierung der Soziologie als von Psychologie und Philosophie unabhängige erfahrungswissenschaftliche Disziplin (Oevermann 2009, S. 50).
Abgrenzung zu einer verallgemeinerten Rollentheorie
Doch dieser Fortschritt von „unschätzbarem Wert“, der also auf dem Erkennen von gleichbleibenden Strukturen von „Rollen“ beruhe, in die Menschen ‚schlüpfen‘ können (wie in Rollen auf der Theaterbühne), hatte – in den zu weit gehenden Verallgemeinerungen der Rollentheorie – einen gravierenden Nachteil:
es ging damit auch ein wesentlicher Aspekt von Sozialität konstitutionstheoretisch verloren, denn die auf Rollenhandeln reduzierte Gesellschaftlichkeit war beschnitten um einen wesentlichen, ja fundamentalen Teil von Sozialität, jenen, in dem die sozialen Gebilde gerade in Beziehungen zwischen ganzen Menschen bestanden und nicht zwischen Rollenträgern, Marktteilnehmern oder Vertragspartnern (Oevermann 2009, S. 50).
Der Nachteil wird in der Folge also darin gesehen, dass ein „fundamentale[r] Teil von Sozialität“, nämlich die „Beziehungen zwischen ganzen Menschen“ dann nicht mehr in den Blick der Analyse „soziale[r] Gebilde“ käme, sondern „beschnitten“ werde, wenn „Gesellschaftlichkeit“ auf „Rollenhandeln“ „reduziert“ werde.
Betonung von Sozialbeziehungen ‚ganzer‘ Menschen
Demgegenüber wäre die „Betonung des Subjekts als ganzer Person“ kein „Rückfall der Soziologie“ und in die „Logik der Dahrendorf’schen Argumentation in ‚Homo sociologicus‘“ (der, was nicht in die Rollentheorie passe, in die Psychologie und Philosophie auslagere, also nicht soziologisch begreife). Vielmehr gehe es um eine „konstitutionstheoretisch notwendige Erweiterung der Soziologie“:
die Betonung des Subjekts als ganzer Person und in seiner Totalität als Fallstruktur [würde] nicht einen Rückfall der Soziologie in Psychologie und Philosophie gemäß der Logik der Dahrendorf’schen Argumentation in „Homo sociologicus“ bedeuten, sondern [wäre] umgekehrt als konstitutionstheoretisch notwendige Erweiterung der Soziologie anzusehen (Oevermann 2009, S. 53).
Diese Passagen werden hier so ausführlich zitiert und teilweise wortgetreu besprochen, um mit größter Genauigkeit die Unterschiede, die letztlich zu einer „Erweiterung“ der Soziologie geführt haben (so das Postulat Oevermanns, dem die Studie mit bildungswissenschaftlichem Interesse auch auf den Grund geht), herauszuarbeiten. Dazu wird zunächst Oevermanns Bezug zu den ‚drei Ebenen‘ sozialer Konstitution und Zugehörigkeit in der Fortsetzung des Zitats wieder aufgegriffen:
Das [gemeint sind die zuvor erwähnten – durch die Generalisierung der Rollentheorie beschnittenen – Sozialbeziehungen ‚ganzer‘ Menschen] sind auf der Ebene kleiner Vergemeinschaftungen vor allem die für die sozialisatorische Praxis entscheidenden Beziehungen zwischen Gatten einerseits und Eltern und Kindern andererseits, also für die Familie als ödipale Triade. Solange diese Beziehungspraxis intakt ist, ist für sie gerade kennzeichnend, dass sie nicht rollenförmig strukturiert ist. Dazu wird sie erst, wenn sie als Praxis zerstört ist, wenn es nur noch um Unterhalt und Ähnliches geht (Oevermann 2009, S. 50).
Während der erste Teil dieser Ausführungen schon aus den Darlegungen zur Ebene 1, also zur ‚familialen ödipalen Triade‘ bekannt ist, charakterisiert der zweite Teil, was Platz greift, wenn die „Praxis“ der ‚kleinen Gemeinschaft‘ bereits „zerstört“ ist. Das hat zur Folge, dass an die Stelle der ‚vier grundlegenden Strukturbedingungen‘, die die (strukturelle) Einzigartigkeit der konkret gelebten ‚diffusen Sozialbeziehung‘ ausmachen, Regelungen aus formalen, rollenhaften Kontexten treten. Wenn man sich das Bündel der ‚vier diffusen Strukturbedingungen‘ vor Augen führt (nämlich: konstitutive Körperlichkeit, bedingungsloses Vertrauen, Unbefristetheit und generalisierte Affektbindung) wird – jedenfalls den Betroffenen – klar, dass das ‚verloren‘ ist, auch wenn es viele gute Gründe gegeben haben mag, Alternativen zum zuvor gelebten (nun ‚verlorenen‘) Zustand anzustreben, und auch wenn die neuen Regelungen, zum Beispiel in Form von ‚Besuchsregelungen‘ für die Kinder Reste der bisherigen Beziehungsmöglichkeiten doch weiter ermöglichen.
‚Staatsbürger‘ in „Kollektiven zwischen ganzen Menschen“
Auch auf der (Makro‑)Ebene 2, der „politischen oder rechtlichen Vergemeinschaftung“,betont Oevermann das Konzept des ‚ganzen Menschen‘, der nun als ‚Staatsbürger‘, in „Kollektiven zwischen ganzen Menschen“ – in Abgrenzung zum ‚Rollenträger‘ – „zu sich selbst“ und einer „subjektiv“ praktizierten „Sittlichkeit“ findet:
Das sind auf der Ebene der politischen oder rechtlichen Vergemeinschaftung, also auf der Ebene, auf der Sittlichkeit nicht mehr nur substantiell ist, sondern subjektiv wird und zu sich selbst kommt, Kollektive zwischen ganzen Menschen, was beinhaltet, dass der Staatsbürger ein solcher nicht als Rollenträger, sondern als ganzer Mensch ist (Oevermann 2009, S. 50).
Und schließlich postuliert Oevermann bezüglich der (Meta‑)Ebene 3: „Die Bindungskraft von Rechtsverhältnissen“ würde nicht bloß auf Kontrakten, also in Verträgen oder Regeln festgeschriebenen Verpflichtungen beruhen. Vielmehr sei von einer „objektiv bindenden Sittlichkeit“, und einer „immer schon vorgängigen Sozialität“ auszugehen, die gemäß einer
Logik von Gemeinschaftlichkeit […] konzipiert werden muss, einer Sozialität also, die das in Rollen konstituierte Sozialverhalten weit überschreitet (Oevermann 2009, S. 50).
(Weiter zu: Eine soziologische und analytische Sicht auf ‚immer schon vorgängige Sozialität‘)