(Davor: Dieses Bild und sein Rahmen)
Wendet man nun den gerade in EXKURS 2 herausgearbeiteten Methodenschritt, nämlich – die wichtigen, dominanten Elemente in der Mitte zu suchen, die ganz unwichtigen an der Peripherie – auf das vorliegende Bild an, so kann man (zunächst nüchtern) festhalten: Die Mitte des Blattes ist merkwürdig wenig genutzt – eher nur ‚umspielt‘ (siehe Abb. 10).

Anders ausgedrückt, die Verteilung und Gewichtung der Darstellungselemente in der Fläche des roten Blattes rufen Rätselhaftigkeit, Dynamik und Suggestion hervor, die zu weitergehender Auseinandersetzung einzuladen scheint. Die Polarität von Mitte und Peripherie scheint nicht lediglich, wie in jedem Bild, für die Erzeugung und die Interpretation, also für die Bildepistemik relevant (siehe Exkurs 2), vielmehr scheint die Mitte in diesem Bild von ganz besonderer Bedeutung zu sein:
Das Reittier scheint soeben aus der Mitte zu kommen
Das Reittier mit der auffälligen Reiterin auf dem Rücken scheint soeben aus der Mitte zu kommen. Die Reiterin lehnt sich breit lächelnd in die – vom Pferd anscheinend gerade durchschrittene – Mitte (zurück). Es scheint eine Dynamik zu entstehen, oder zur Darstellung gebracht, die mit der Mitte vielleicht ausdrücklich zu tun hat: Als ob die Mitte Teil des Spiels, des Geschehens – und auch der Anstrengung, dies darzustellen – wäre.
Doch trotz dieser anscheinend besonders großen Bedeutung der Mitte in diesem Bild scheint die ‚Auflösung‘ der Rätselhaftigkeit im Bild nicht einfach. Hängt das mit der Bildmitte und der ziemlich einseitigen Verteilung der Darstellungselemente im Blatt zusammen?
Die (geometrische) Mitte bleibt leer
Die geometrische Mitte dieses rechteckigen roten Blattes ist leicht durch zweimaliges Falten in zwei gleich große Hälften zu bestimmen (oder vorzustellen). Geht man derart geometrisch vor, dann wird noch deutlicher: Das Blatt ist – bezogen auf die geometrische Mitte – rätselhaft unausgewogen. Die (geometrische) Mitte ist leer. Die im Bild dominante Zweier-Gruppe (Reittier und Reiterin) hat diese Mitte soeben verlassen. Die Person, die das Reittier an langer Leine führt, ist ganz rechts außen an den rechten Rand des Blattes gezeichnet, was zur rätselhaften Raumverteilung in diesem Blatt beiträgt.
Auch die übrigen großen Bildelemente kann man von der gedachten (oder gefühlten) Mitte ausgehend klar positionieren:
Die Komposition ist relevant
Der Schriftzug ERNA ist links am Rand oberhalb der Mitte in fetten Blockbuchstaben ansteigend ausgeführt (es handelt sich um eine Pseudonymisierung, die ich als Forscher möglichst ähnlich der ursprünglichen Schreibweise gestaltet habe). Die Fortsetzung der gedachten Zeile führt an den gegenüber liegenden rechten Rand zu folgendem Eintrag: 01.10.2012.Diese beiden Schriftzüge zusammen genommen kann man als Signatur verstehen.
Am oberen Rand ist breit durch die Mitte geschrieben – allerdings sehr schwer zu entziffern – eine Überschrift, ein Titel oder eine Inschrift (von Buchstabe zu Buchstabe bzw. Wort für Wort sichtbarer werdend ausgeführt): ICH KANN GUT REITEN. Dieser obere Bildausschnitt (siehe Kapitel 1.8 und dort Abb. 5) mit dieser Überschrift und Signatur ist bereits als Exempel für naturwüchsiges Fallverstehen, für das Ringen um Sichtbarkeit sowie für das Bewältigen einer Krise – vermutlich der Muße – eingehend abgehandelt. In Kapitel 1.9 ist sodann zu diesem oberen Bildsegment, das also schriftsprachliche Eintragungen auf dunkelrotem Untergrund enthält, überdies eine ERKENNTNISSICHERUNG hinsichtlich der drei Forschungsfragen formuliert.
Da nun aber das ganze Bild, und nicht nur der obere Abschnitt, der wie eine Kopfzeile oder auch Aufgabenstellung (Überschrift, Autor, Datum) wirkt, muss in Bezug auf die Wirkung des Schriftzuges ERNA – als Verweis auf die Urheberin – noch angemerkt werden, dass dieser Name sich prägnant (deutlich und aussagekräftig) hervorhebt, und wie ein Gegenpol zum Gezeichneten, also zum Reittier samt Reiterin an der Leine der Pferdeführerin (am Rand) zur Wirkung gelangt.
Doch vor der weiteren Deutung (neben) der schon konstatierten Prägnanz und Rätselhaftigkeit der Verteilung, genauer der Komposition der Darstellungselemente in Blatt 01.10.2012 (Reiten), ist deren Benennung noch voran zu treiben, denn diese ist die Grundlage für eine nachvollziehbare, genauere Bildanalyse, siehe auch die Nachbetrachtung zu dieser Benennung der Darstellungselemente (Kapitel 2.4.2).
(Weiter zu: (Tief-)schwarze Linien und Darstellungselemente auf Rot: Suggestion?)