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Dieses Bild und sein Rahmen

(Davor: Wagnisse der Forschungspraxis – methodische Abfederung)


Kleine Einführung in die Bildepistemik

Für die Bezeichnung des Datenblattes als ‚Bild‘ (so wurde es hier bereits mehrfach tituliert) reiche ich nun reflexive Argumente, bildtheoretische Begründungen und methodische Herleitungen nach, die an anderen Stellen noch vertieft werden (siehe Exkurs 2, insbesondere Kapitel 2.3.6). Dabei zeige ich nicht nur laufend auf das Datenblatt als Exempel. Vielmehr ist dabei der wissenschaftliche Anspruch, die eingesetzten Argumente, Theorien und Methoden wie auch die gewonnenen Erkenntnisse laufend (bzw. immer wieder) und konkret am jeweiligen Datenmaterial zu überprüfen.Mit dieser Vorgangsweise bemühe ich mich, sowohl anschaulich und exemplarisch vorzugehen, als auch den beschrittenen Weg zu reflektieren bzw. zu überprüfen. Auf diese Weise möchte ich auch schon vorhandene Erfahrung am konkreten Beispiel (wieder) zum Fall machen und sie so aktualisieren (oder auch in Frage stellen).

Der Rahmen ist entscheidend

Die Erwägungen zur Bezeichnung dieses Blattes als Bild werden auch zu einer kleinen Einführung in die Bildepistemik, die als Theorie der Generierung und Methodik der Deutung der Sinn- und Bedeutungsstrukturen eines Bildes verstanden wird, genutzt:

Das Blatt 01.10.2012 als ‚Bild‘ zu bezeichnen, lässt sich aus dem Umstand herleiten, dass es gerahmt vorliegt. Ein Rahmen wirkt auf die jeweilige gerahmte Fläche derart, dass der Flächeninhalt eine Transformation seiner Bedeutung erfährt. Der Rahmen ‚macht‘ das Gerahmte zum Bild, beeinflusst und strukturiert die Bedeutung dessen, was gerahmt wird. Nicht nur der bloße Umstand, dass ein bestimmter Flächeninhalt gerahmt wird, beeinflusst (strukturiert) dessen Bedeutung bzw. Bedeutungswahrnehmung. Die Wirkung von Rahmungen – und die zentrale oder marginale Position im jeweiligen Rahmen – scheint uns nicht nur selbstverständlich und intuitiv zugänglich und erschließbar. Vielmehr scheint es auch Situationen zu geben, in denen wir zur jeweiligen Position (in der Mitte oder am Rand) Gefühle (beispielsweise ‚kraftvoll‘ oder ‚schwach‘) verinnerlicht haben. Wir spüren also die Positionierung im jeweiligen Rahmen. Dies dürfte auch die Redensart begründen, wonach sich jemand ‚an den Rand versetzt‘ oder ‚gedrängt‘ fühlt. Auf solche Gefühle bezieht sich sodann eine Erklärung für unsere intuitive Vertrautheit mit Bildern. Für methodische Zwecke charakterisiert Oevermann die Struktur der epistemischen Elementarformen von Bildern als

Darstellungen auf einer Fläche, die als Bildträger abgegrenzt markiert ist und durch die Markierung ihrer Einheit zur Kohärenz und Prägnanz einer Darstellung auffordert (Oevermann 2014, S. 72).

Demnach bewirkt bzw. „markiert“ ein Bilderrahmen oder genauer, „eine Fläche, die als Bildträger abgegrenzt markiert ist“, durch diesen Rahmen eine „Einheit“, die „zur Kohärenz und Prägnanz einer Darstellung auffordert“. Oder schlicht ausgedrückt: Der Rahmen macht (markiert) das Bild zum Bild.

Die Abbildung zeigt mehrere Rahmen

Bevor diese bildepistemischen Ausführungen weiter ausgebaut, und vor allem zur tieferen Analyse angewandt werden, möchte ich die verschiedenen Rahmen der Abbildung 8 einer genaueren Betrachtung unterziehen. Denn die vorliegende Abbildung 8 (Kapitel 2.3.2) zeigt mehrere Rahmungen, die auf Grund der bildtheoretischen Klärung nun empirisch genauer zugeordnet und in ihren Konsequenzen betrachtet werden sollen.

Nur der Rand des roten Blattes führt zum ursprünglichen Bild

Die Abbildung 8: Blatt 01.10.2012 (Reiten) zeigt mehrere, teils unvollständig abgebildete Rahmen (a bis d). Sie werden nun – von den Rändern zur Mitte schauend – benannt und in ihrer bildepistemischen Wirkung an den Fakten der Abbildung, die als technisch angefertigtes (Foto‑)Protokoll betrachtet wird, besprochen.

Die Rahmungen dieses Blattes bestehen also (von außen nach innen blickend) aus mehreren –nicht immer vollständigen – Rahmen, die auf unterschiedliche Praxen zurückzuführen sind:

  1. Der Abbildungsrahmen weist auf jene Praxis hin, mit der in dieser Studie etwas als Abbildung gezeigt wird.
  2. Auf die Aufbewahrung und Praxis des Sammelns in einem Ringordner weisen die (mitfotografierte) Klarsichthülle, sowie der Schattenwurf der Ordnerringe am oberen Rand hin. Am unteren Rand sind Hüllen weiterer Blätter zu erkennen.
  3. Auf einen Schnappschuss, also auf eine ‚rasche‘ Praxis des Fotografierens, weisen unübersehbare ‚Kleinigkeiten‘ als Spuren der damaligen Situation hin. Das Blatt ist in einem Ordner, in leicht gewölbter Form und auf Hüllen anderer Blätter zu sehen. Auch das improvisierte Fotografieren selbst zeigt sich an wechselnden Lichtverhältnissen und Schatten, die die Farbverhältnisse beeinflussen, ja beeinträchtigen. Die Umstände des Augenblicks des Fotografierens werden also in etlichen Details neben dem Hauptmotiv (Blatt 01.10.2012: Reiten) zusätzlich dokumentiert
  4. Und schließlich ist der Rand des roten Zeichenblattes als der ‚eigentliche‘ Bildrahmen zu bezeichnen, denn dieses Rot hebt sich – und alles, was darauf aufgebracht ist – von der jeweiligen Umgebung ab. Allerdings ist das rote Zeichenblatt im Foto minimal, vor allem links aber auch rechts oben, angeschnitten, was aber in Bezug auf die gesamte Wirkung des ursprünglich angefertigten Bildes – bei entsprechendem Bemühen – zu vernachlässigen ist.

Warum hier der Rand des roten Blattes maßgeblich ist

Für den inneren Kontext von Ernas Blatt 01.10.2012 ist nur der zuletzt genannte Rahmen (d), also der Rand des roten Blattes, maßgeblich. Denn die anderen – dem roten Blatt äußeren –Rahmen (a, b und c) weisen auf später gesetzte Handlungen hin, wie die Aufbewahrung in einer Plastikhülle (b), oder die Verhältnisse und Umstände beim Anfertigen des Schnappschusses (c) und schließlich den in dieser Publikation gesetzten schmalen Abbildungsrahmen (a).

Anders ausgedrückt, im Abbildungsrahmen (a) ist ein Foto abgebildet, das auch Spuren der Praxis der Aufbewahrung in der Klarsichthülle (b) sowie der Praxis des Fotografierens (c) zeigt. Noch einmal: Nur der rote Rand (d) gilt hier als Bildrahmen jenes Blattes 01.10.2012 (Reiten), das als Ausdrucksgestalt einer Lebenspraxis im Fokus der Forschungsfragen im Rahmen der Studie untersucht wird.


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