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RESÜMEE zu Blatt 01.10.2012 (Reiten)

(Davor: Zur Dynamik dieses Bildes)


Nun werden die Erkenntnisse aus den über mehrere Kapitel verteilten unterschiedlichen Zugriffen auf Blatt 01.10.2012 (Reiten) zu einem RESÜMEE zusammengeführt – offen dafür, dass sich in der Zusammenschau mehr zeigen möge, als die bloße Summe seiner Teile ergäbe.

Der persönliche Eindruck der Rätselhaftigkeit als Erzählrahmen des Resümees

Ich beginne mit einem persönlichen ersten Eindruck von diesem Blatt und seiner Rätselhaftigkeit (siehe die verkleinerte Abbildung 8 in Kapitel 2.3.2 oder das kaum verkleinerte Blatt in Abbildung 30 im Bildanhang). Dieser persönliche Eindruck soll aber nur den Erzählrahmen für dieses Resümee verständlich machen. In diesem Erzählrahmen wird sodann das Resümee der wissenschaftlichen Erschließung dieses Blattes aufbereitet.

Rätselhaft an diesem Blatt finde ich zunächst, wie mir das Kind zugewandt ist. Dann versuche ich schon das ganze Bild und seine Aussage zu erfassen, das Pferd, die Longe, die zu einer Person am Rand führt. Darüber ein Datum, knapp darüber „REITEN“. Eine Überschrift? Steht da nicht etwas davor? Links in sehr deutlichen Buchstaben „ERNA“. Das stolzierende Pferd. Locker verspielt die Reiterin. Hüpfende Zöpfe mit Maschen. Das Kind hat einen unwirklich schmalen Hals. Die Arme und Hände sind nur angedeutet. Usw. usw. Die Verteilung der Darstellungselemente erscheint auffällig. Das Blatt zeigt viel Rot. … Soviel also zu meinem ersten Eindruck zur – bleibenden – Rätselhaftigkeit dieses Blattes. Der persönliche Eindruck soll aber nur den Erzählrahmen für das Resümee der systematischen, zunehmend methodologisch begründeten und methodisch nachvollziehbaren Erschließung des Blattes stiften.

Ergebnis zur Forschungsfrage 1

Die Forschungsfrage 1, die (a) auf werkimmanente Prägnanz sowie (b) auf die Beteiligung von Autonomie an der Generierung der Bedeutungsstrukturen dieser Blätter fokussiert, ist hinsichtlich Blatt 01.10.2012 (Reiten) gültig beantwortet:

In diesem Blatt wird von der Autorin Erna – unter Nutzung dreier Medien, Schrift, Zeichnung und Farbe – die reflexive Selbstkundgabe und Selbstbehauptung, „ich kann gut reiten“, sowohl schriftsprachlich formuliert als auch szenisch gezeichnet zur Darstellung gebracht. Das Rot des Zeichenblattes wird zur Bühne für die Inszenierung einer Pose. Diese Pose zeigt die vergnügte Reiterin Erna auf einem stolzierenden Pferd, das von einer Pferdeführerin oder Reitlehrerin an einer Longe geführt wird.

Das gemischt-medial gestaltete Blatt ist von prägnanter, suggestiver, authentischer und autonomer (Selbst‑)Aussage: Zum Ausdruck gebracht ist, wie Erna mit den drei Darstellungsmedien, aber auch mit der Komplexität der darzustellenden Situation ringt. Durch diesen authentischen Bezug auf die reflektierende Autorin kann von einem autonomen Bildungsprozess gesprochen werden, in welchem die Autorin und Darstellerin Erna einige Herausforderungen bzw. Krisen bewältigt, die zu diesem eigenständigen (autonomen) und reflexiven Bild bzw. Werk geführt haben.

Die knappe, in Schriftsprache ausgeführte, Selbstkundgabe und Selbstbehauptung „ich kann gut reiten“ wird zum Anfangsstatement und zur Überschrift samt präzisierender Signatur formuliert. Unter dieser Überschrift folgt – wesentlich reicher an Details als die sprachliche Aussage – eine gezeichnete und gemalte Darstellung dieser (Selbst-)Behauptung als gemeinsame Pose von Reiterin, Pferd und Pferdeführerin. Überschrift und Zeichnung ergeben zusammen ein signiertes Bild, genauer ein Reflexionsblatt mit suggestiver, in vieler Hinsicht rätselhaft bleibender – und doch prägnanter – Aussage und Ausdruckskraft.

(Hinweis: In der Langfassung der Studie ist noch eine genauere – sequenziell aufgeschlüsselte – Argumentation zu den einzelnen Forschungsfragen ausgeführt. Damit wird dem methodischen Anspruch sehr detailliert nachgekommen.)

Ergebnis zur Forschungsfrage 2

Zur Forschungsfrage 2, mit der die Prämisse zu einer dem Schulbesuch vorgängigen, grundlegenden – in die Schule bereits mitgebrachten – Kompetenz überprüft wird, kann, bezogen auf Blatt 01.10.2012 (Reiten), festgehalten werden:

Im untersuchten Blatt wurden zwei sehr unterschiedlich ausgeführte Bildsegmente ausgemacht, zum einen das obere Drittel des Blattes, das in Schriftsprache ausgeführt ist, zum andern die Zeichnung in Relation zum Blattganzen. Im ersten, weitgehend für sich stehenden Bildsegment wurde ‚naturwüchsiges Fallverstehen‘ (siehe Kapitel 1.8.2) vermutet, und schließlich als Krise der Muße rekonstruiert, hervorgerufen durch die offensichtlich irritierende Farbkraft des Zeichenblattes, das die Buchstaben zu verschlucken schien (Kapitel 1.8.2.2).

Die weitgehend eigenständig hervorgebrachten Lösungsschritte, die das Kind in der Folge sehr deutlich im Blatt gesetzt hat, können – wegen der zeitlichen Nähe des Erstellungsdatums des Blattes zum Schulbeginn – auf bereits in die Schule mitgebrachte grundlegende Kompetenz zurückgeführtwerden.

Allerdings wirft diese Annahme Folgefragen auf, etwa, was oder wer die Entstehung (Elternhaus, Kindergarten, …) und sodann das Realisieren (schulisches Umfeld, Rückhalt durch …) dieser grundlegenden Kompetenz begünstigt hat. Diese Folgefragen werden hier nicht beantwortet, sondern nur als offen geblieben vermerkt.

Vorläufige Antwort zur Forschungsfrage 3

Im Bild und seinen zwei Bildsegmenten finden sich keine (ausdrücklichen) Anhaltspunkte für die in Forschungsfrage 3 festgehaltene Bewährungsaufgabe im Spannungsfeld zwischen zwei weitgehend konträren Verständnissen von Kompetenz, die das ‚Kind in der Schule‘ in seiner Lebenspraxis in ein fruchtbares Verhältnis zu bringen hätte. Das ‚rollenförmige‘, staatlicher Standardisierung unterworfene, zu formal anerkannter Kompetenz führende Verständnis scheint bei der Gestalterin des Blattes noch gar nicht ‚angekommen‘ zu sein. Vielmehr scheint ‚nur‘ die in Forschungsfrage 2 postulierte grundlegende Kompetenz aus vorschulischer bzw. familiärer Sozialisation zur Geltung zu gelangen. Das wiederum würde bedeuten, dass lediglich eine ‚diffuse Sozialbeziehung‘ (Oevermann 2004; Kapitel 2.5.2) im Bildausschnitt zum Ausdruck gebracht ist. Was gleichzeitig als Hinweis darauf aufzufassen ist, dass es (noch?) zu keiner bewusst wahrgenommenen Konfrontation oder Krise auf Grund konträrer Kompetenzverständnisse, wie in der Forschungsfrage 3 (mit-)postuliert, gekommen ist.

Reflexiver Nachtrag in Form einer Phantastischen Lesart

Nun möchte ich meinen (persönlichen) ersten Eindruck der Rätselhaftigkeit wieder aufgreifen, und damit eine phantastische Lesart zum Ausklang dieses Resümees motivieren:

Im Bild ist eine Reitszene dargestellt, die einerseits Ernas Abenteuer zeigt, wie sie mit Unterstützung einer Reitlehrerin freudig einige Runden auf dem Rücken eines großen Pferdes gemeistert hat. Andererseits weist der obere Teil des Blattes mit dem Satz „ICH KANN GUT REITEN“ sowie mit ihrem Namen und einem Datum aus den ersten Schulwochen darauf hin, dass es auch um die Schule geht. Mehr noch, ERNA möchte letztlich mit Stolz das Ross des Wissens reiten.


(Weiter zu: Blatt 24.09[.2012]: Familie)