Fallrekonstruktion.net

Blatt 10.10.2012: Zwei ‚dicke‘ Freundinnen

(…als Exempel für „Bunte Blätter“)

Gesucht und gefunden hat Maria T. (also Bf im Transkript) das Blatt 10.10.2012: Zwei ‚dicke‘ Freundinnen. Dieses Blatt wurde bereits besprochen (Kapitel 2.7: Sichtung weiterer früher Blätter, Abb. 16).

Abbildung 16: Blatt 10.10.2012: Zwei ‚dicke‘ Freundinnen; pseudonymisiert; verkleinert

Aber der damalige Fokus war anders gesetzt (nämlich auf Ernas transformierte Zeichentechnik im Umgang mit dem dunklen Zeichenblatt und hellen Kreidestiften), obwohl auch dort die Perspektivität der Schulleiterin bereits kurz zur Geltung kam. Nun wird es also im Kontext des pädagogischen Konzepts ‚Bunte Blätter‘ aus der Perspektivität der Schulleiterin Maria T. noch einmal besprochen:

Bf: Bunte Blätter, wie man da sieht, das war 10. Oktober, [siehe Blatt 10.10.2012: Zwei ‚dicke‘ Freundinnen] eah sind immer Blätter, die in einem Bilderrahmen drinnen waren: „Auf was bin ich stolz“ (Clip3, Audio-Transkript, Abs. 10).

An dieser Stelle schwenkt die Schulleiterin also zur Darlegung des Stellenwerts „bunter Blätter“ als Teil ihres pädagogischen Konzepts.

Bf: Da hat die Lehrerin dazu geschrieben, das heißt die Erna hat die Zeichnung gemacht und die Lehrerin hat dazu geschrieben, was die Erna gesagt hat, sie ist stolz, dass sie eine Freundin gefunden hat, – (Clip3, Audio-Transkript, Abs. 10)

Da stutzt Maria T., denn auf dem Blatt steht geschrieben: „Ich bin stolz, dass ich neue Freundinnen gefunden habe“. Nach einer kleinen Nachdenkpause (symbolisiert durch einen Gedankenstrich im Transkript) führt die Schulleiterin Maria T. weiter aus:

Bf: – und diese Freundin ist vier Jahre lang die Freundin gewesen und die beiden waren eine richtige Symbiose, die haben sich im Grunde in der Schule kennen gelernt, – in der ersten Klasse und sind jetzt bis zur vierten Klasse einfach dicke Freundinnen geworden, die – nie – chm eine dritte dazu gelassen haben – – und es ist wieder die Sonne immer sehr präsent (Clip3, Audio-Transkript, Abs. 10 und 11).

Maria T. führt zunächst ihre sonstigen Beobachtungen ins Treffen, im Verlauf der nächsten vier Jahre sei es zu einer „richtigen Symbiose“ gekommen. Zusätzlich betont sie, dass die beiden als „dicke Freundinnen“ vielleicht sogar etwas übertrieben hätten, indem sie „– nie –“ (Räuspern) „eine dritte dazu gelassen“ hätten. Und sie besinnt sich eines Symbols, das ihr schon in der Besprechung des ersten Blattes (24.09.2012) aufgefallen ist, das sie damals als ausgeprägtes „Harmoniebedürfnis“ interpretierend hervorgehoben hatte. Dieses Symbol sei wieder ins Bild gesetzt: „die Sonne [ist] immer sehr präsent“. Es werden weitere Anhaltspunkte und Bild-Deutungs-Kriterien angeführt:

Aber, die Erna ist da schon mittiger, das heißt, sie hat sich schon an die Schule gewöhnt und hat net mehr so viel Angst – (Clip3, Audio-Transkript, Abs. 11).

Maria T. präsentiert also – mit einem längerfristigen Blick über die Schuljahre und mit einem exemplarischen Blick auf ein Blatt – Ernas Arbeiten zu verschiedenen Themen in Verbindung mit Beobachtungen und pädagogischen Kommentaren als Schulleiterin einer Ganztagsschule, in der der Unterricht mit betreuter Freizeit verschränkt wird. Dabei fällt es vielleicht leichter, über die bloße Beachtung der Rolle von Schüler*innen hinausgehend, jeweils den ganzen Menschen wahrzunehmen. Es könnte in einer Ganztagsschule allerdings auch sein, dass das rollenhaft Schulische dominiert.

Maria T. hat in Ernas Blatt 10.10.2012 die Seite des ‚ganzen‘ Menschen Erna (und nicht nur die Seite und Rolle der Schülerin Erna) betont, wenn sie im Bild eine ‚dicke‘ Freundschaft wiedererkennt, die sie auch im Alltag des Lebens in der Schule beobachtet hat.

Dann erfolgt – zunächst etwas unvermittelt erscheinend, denn gerade stand noch eine ‚dicke‘ Freundschaft, bunt in Szene gesetzt, im Vordergrund – ein Schwenk zu einem Problem.

Der Erzählfaden einer Biographie (im Unterschied zu einem formalen Lebenslauf, der an institutionell verbrieften Zertifikaten orientiert ist) entfaltet sich verwoben und vernetzt, besteht aus Vor- und Rückblenden – und Überraschungen, von denen manche erst im Erzählen und im reflexiven, rekonstruktiven (Nach‑)Betrachten bewusst(er) werden (vgl. Dausien, Rothe & Schwendowius 2016, insbesondere S. 28-34 sowie S. 58-62).


(Weiter zu: Blatt 29.10.2012: Übung 2–1=)