(Davor: Methodisches Postulat zur (Re-)Konstruktion der Entstehung von Ausdrucksgestalten)
Nun wird sequenziell, also Sinneinheit für Sinneinheit, eine Geschichte bzw. eine umfangreiche Lesart zum gesamten Blatt 18.10.2013 (‚Land Des Rechnens‘) erzählt, die um methodische Facetten angereichert ist, dadurch soll sich die (Re-)Konstruktion in vieler Hinsicht einer objektiv-hermeneutischen Rekonstruktion annähern:
(1) Die (re-)konstruierende Erzählung beginnt nun bei einer kleinen Auffälligkeit in der Mitte des Blattes 18.10.2012 (‚Land Des Rechnens‘): Die Sprechblase ist anscheinend zu klein geworden für die Größe des Inhalts: „Ich liebe Rechnen“, ergänzt um ein Herzsymbol. Damit dieser Satz in einer Zeileausreichend Platz erhält, hat die Sprechblase eine Ausbuchtung bekommen [siehe weiter unten die Abbildung 24].
(2) Man kann also in der Vergrößerung der Sprechblase einen (nachbessernden) Gestaltungsprozess erkennen. Als Betrachter*in ist man gerade dadurch nicht nur mit dem fertigen Bild konfrontiert, sondern man kann beim Betrachten auch näher in den Prozess der Entstehung des Blattes ‚hineinfinden‘ (wenn man danach trachtet). Es wird sich noch zeigen, dass es mehrere Stellen im fertigen Bild gibt, die das ‚Eintreten‘ in den Entstehungsprozess und das Erkennen von Entscheidungen im Zuge der Blattgestaltung erleichtern.
(3) Die ansteigende Linienführung nur dieses Satzes – alle anderen Wortgruppen, Ziffern, Zahlen und Rechnungen sind ‚freihändig‘ waagrecht angeordnet – deutet an, dass der Satz sich auf das gesamte Blatt bezieht. Gleichzeitig ist im dargestellten ‚Land Des Rechnens‘ auch angedeutet, dass es sich um einen sehr kleinen Teil dieses vielleicht unermesslichen ‚Landes‘ handelt, denn sowohl die Zahlen als auch die Rechnungen sind vorwiegend (anscheinend absichtlich) relativ klein und einfach gehalten.
(4) Die Selbstkundgabe und Liebeserklärung der Proponentin bezieht sich also auch auf Unbekanntes, Unermessliches. Muss einem da nicht auch bange werden angesichts der unbekannten Dimension?
(5) Auch die Sprechblase könnte viele andere Formen haben oder unter den Rechnungen fast verschwinden. Aber die Zeichnerin hat ihre Wahl in der vorliegenden Form getroffen.
(6) Die Sprechblase schließt an das gelb strahlende Haar an. Auch hierzu sind etliche Alternativen gut vorstellbar: Die Sprechblase könnte auch als Gedanke aus dem Scheitel entspringen oder als Satz aus dem Mund oder als Gefühl aus dem Herz hervorquellen oder hinter der Figur entspringen. So, wie die Sprechblase dargestellt ist, bleibt also (ein wenig) unklar – wer den Satz spricht, und ob er überhaupt gesprochen oder zugeflüstert wird, oder doch vielleicht bloß gedacht, oder aber gefühlt ist (wofür das Herz spräche).
(7) Diese kleine Unklarheit bleibt, obwohl doch sehr dominant nahegelegtwird, dass jene gezeichnete Gestalt, „Ich liebe Rechnen“ sagt, die sich selbst gezeichnet und mit Namen Erna 2 ausgewiesen hat. Als weitere kleine Unklarheit muss wohl auch die Ziffer 2 hinter dem Namen erwähnt werden.
(8) Nicht nur das. So, wie Erna 2 sich inmitten von farbigen Zahlen und Rechnungen dargestellt hat, wird sie zur initiativen Akteurin – also zur Proponentin – des dargestellten Szenarios, in ihrem ‚Land Des Rechnens‘.
(9) Bevor die Proponentin des ins Bild gebrachten Geschehens, Erna 2 also, auf dem Blatt zu schreiben, zeichnen, malen und rechnen begonnen hat, hat Erna 2 ein Blatt ausgewählt (sie hatte Zeichenblätter in vielen Farben zur Auswahl). Die Neu-Erzählung von ‚Land Des Rechnens‘, die ausdrücklich als (Re-)Konstruktion – also als Wieder- oder Neukonstruktion – des faktischen (fertigen) Bildes verstanden wird, ist nun am Anfang des Prozesses der Gestaltung des leeren hellblauen Blattes angelangt.
(10) Die Proponentin Erna 2 hat das leere zartblaue Blatt im Querformat zum Zeichnen bereit gelegt. Das ist anders als sonst. Denn das ‚Land Des Rechnens‘ – welch schönes, die Phantasie anregendes Sprachbild – erstreckt sich weit und in die Breite. Übungsblätter haben meist Linien und Vorgaben oder Angaben. Das ist aber etwas anderes. (Übungsblätter liegen aufrecht, im Hochformat, das will Erna 2 nicht.)
(11) Übungsblätter sind selten – nur – in Farbe und schon gar nicht leer. Erna 2 ist also bereit, auf diesem schönen, zartblauen leeren Blatt selber was zu machen. [Solche Gedanken und Gefühle könnten Erna 2 – also die Proponentin in dieser Erzählung – damals bewegt haben.]
(12) Das ist ein besonderes ‚buntes‘ Blatt. Zartblau, so wie manchmal der Himmel. Himmelblau ist die zweite Lieblingsfarbe von Erna 2, auch deswegen ist der Zweier gut. Meist ist ja Rot ihre Lieblingsfarbe. (Blätter in vielen Farben liegen im Kasten. Für Besonderes. Auch Rot ist dabei.) Erna wählte lieber Himmelblau.
(13) Der Zweier hinter Erna, also Erna 2, stellt eine Verbindung her zu Erna 1. Aber das (Erna 1) – hat sie nie geschrieben. Damals hat sie ihren Namen gar nicht drauf geschrieben. Das war komisch. Da hat sie ein Blatt mit Käfern nachgezeichnet. Einer war immer durchgestrichen. Daraus sollte sie eine Minus-Rechnung machen, dafür ist eine Zeile darunter freigeblieben. Sie hat es gemacht [siehe Kapitel 2.7.2]. Hat bei Zwei minus Eins begonnen. Dann Drei minus Eins. Dann wieder Zwei minus Eins. Bis Null. Blöd. – Andere haben gesagt, nur bis drei? – Nein! Bis Null! – Aber das hat keine verstanden. Trotzdem ist ihr gesagt worden, sie soll das Übungsblatt ausschneiden und auf ein Farbblatt kleben. Das ist dann in einem Rahmen an die Wand gehängt worden. BRRR! Gut, dass ihr Name nicht draufsteht! Dann hat sie es in eine Klarsichthülle gegeben und in ihrer Mappe aufgehoben. Sie weiß auch noch das Datum dieses Blattes: 29.10.2012 (Übung: 2 – 1 = ). Genug von damals! Das ist fast ein Jahr her [siehe auch Kapitel 2.7.2 und dort Abb. 17 sowie Kapitel 3.10].
(14) Heute steht ganz oben an der Tafel – wie jeden Tag – das aktuelle Datum: 18.10.2013. Das schreibt sie auf das himmelblaue, zartblaue Blatt auch ganz weit oben. Naja: 8 in 18 ist zwar ihre besondere Zahl, die ist diesmal nicht gut gelungen. Aber am Rand radieren? Das mögen Blätter nicht. Ihre „8“ bleibt so, wie sie ist.
(15) Und jetzt, links oben, nicht gar so nah am Rand, die schöne Überschrift, die sieht sie auf einem großen Streifen an der Seitenwand, wo schon einige Bilder zu dieser Überschrift in Holz-Wechsel-Rahmen hängen: „Land Des Rechnens“. Das hat sie mit ihrem grauen Stift, dem mit Reibungshitze-Radierer, geschrieben.
(16) Sie wählt nun einen grünen Farbstift. Auf das zartblaue Blatt schreibt Erna zunächst Zahlen: Links 5, rechts 16, weiter unten 71, dann links oben 60, in der Mitte 10.
(17) Dann wechselt Erna den Farbstift. Von Grün zu Türkis: links oben 90, weiter rechts 99, unten in der Mitte 13. Obwohl Erna fest draufdrückt, diese Farbe sieht man nicht gut.
(18) Dann hat Erna zu zeichnen begonnen, unten in der Mitte. Sie hat sich mit ihrem grauen Stift so gezeichnet, dass sie sich auch noch anmalen kann. Das kann sie gut [siehe Abb. 24].
(19) Sie hat sich in ihr gerade entstehendes Land des Rechnens zunächst mit dem grauem Stift in Umrissen gezeichnet. Auch eine Sprechblase gehört zu ihr. Die bleibt noch leer, sie zeichnet lieber zuerst.
(20) Beim Rock, den sie später blau anmalt, musste sie ausbessern. An der Stelle kann man schon radieren. Genauer gesagt: Reiben. Gut, dass sie den Reibungshitze-Radierer auf diesem Stift dabei hat. (Da radiert man ohne die üblichen Fusseln). Sonst wär sie zu dick geworden, sie ist aber sehr schlank.
(21) Dann hat sie die Haare strahlend in Gelb gemalt – manchmal, wenn die Sonne scheint, sagt Papa zu ihr: Jetzt strahlen deine Haare nach Sonne. Die Haare sind hier länger und heller als sie wirklich sind.
(22) Damit die Haare genug Platz bekommen, hat sie links an der Sprechblase ein wenig radiert, da sind die leuchtend gelben Haare schon wichtiger, da darf kein Strich durchgehen.

(23) Als sie dann ihren Satz zu Rechnen hineinschreibt, ist die Sprechblase zu klein.
(24) Rechts an der Sprechblase radiert sie nun auch. Radieren kommt sonst selten vor. Aber ihr Satz braucht mehr Platz. So wird es eine Blase mit Beule. Auch gut. Wolken haben oft Beulen, die sich sogar quellend verändern.
(25) Ihr Satz hat nun Platz: „Ich liebe Rechnen“.
(26) Liebe kann man groß oder klein schreiben. Beides ist toll.
(27) Drunter ein Herz. Klein – aber deutlich.
(28) Jetzt malt sie den Rock blau an. Passt gut zum Gelb.
(29) Blaue Zahlen fehlen noch: 9 und dann 17 ziemlich weit oben.
(30) Dann platziert sie 11 neben sich und unter die Sprechblase.
(31) Jetzt 18 links außen, 8 setzt sie wieder zusammen, diesmal ist ihr das gut gelungen: drei so-herum und anders-rum, das macht nur sie so. Man sollte es aber nicht sehen und auch nicht an die Ziffern 3 denken, sondern nur an 8 [siehe Abb. 24, links außen].
(32) Ins ‚Land Des Rechnens‘ gehören neben Zahlen auch Rechnungen. Also schreibt sie: 7 + 3 = . Sie wüsste natürlich noch mehr solcher Angaben, aber bei dieser kommt etwas Besonderes raus.
(33) Für das Ergebnis dieser Rechnung verwendet sie wieder den besonderen grauen Stift. Manche glauben, das sei ein Bleistift-Strich. Aber genauer betrachtet ist das ein grauer Tintenroller. Zu (blau) 7 + 3 = schreibt sie in Grau: 10 [siehe Abb. 22 in Kapitel 3.11].
(34) Etwas weiter oben schreibt sie mit dem grauen Stift weiter: 5 + 5 = .
(35) Das (besondere) Ergebnis schreibt sie in Orange: 10.
(36) Naja. Orange wirkt hier wie Hellbraun. Das passt als Farbe für das Gesicht und die Beine. Sie malt beide an [siehe wieder Abb. 24, hier etwas weiter oben].
(37) Erna bleibt bei dieser Farbe, und unter blau 11 schreibt sie 1000 in Orange-Hellbraun. Eintausend, wenn man es ausspricht.
(38) Links neben ihre gezeichnete Gestalt kommt in dieser Farbe (Orange-Hellbraun) wieder eine Rechnung: 50 – 3 = .
(39) Das Ergebnis schreibt sie in Türkis: 47. Das hat gerade noch Platz.
(40) Sie wechselt zu Grün und schreibt links, denn da ist noch viel Platz: 6 + 6 = . [Das ist wieder nur in den Abbildungen des gesamten Blattes zu sehen, nämlich in Abb. 22 in Kapitel 3.11 oder im Bildanhang, dort Abb. 37.]
(41) Das Ergebnis ist 12. Dafür nimmt sie wieder Orange-Hellbraun. Das ist eine wichtige Zehnerüberschreitung. Die Angaben sind einstellig, das Ergebnis ist zweistellig.
(42) Jetzt beginnt Erna zu ahnen, dass in der ‚schönen Überschrift‘ (‚Land Des Rechnens‘) und den schönen, leeren, ‚bunten‘ Blättern etwas versteckt ist, auf das man ruhig selber draufkommen soll. So ähnlich ist das in einer ihrer Lieblingsgeschichten, da sagt die gute Fee: „Der Zauber ist in dir“.
(43) Dann wieder in Grün: 50 + 2 = . Da musste sie beim Plus radieren. Das ist bei Farbstiften nicht einfach (und fusselt).
(44) Stiftwechsel zu Grau: 52. Das wirkt blass. Stiftwechsel.
(45) Wieder in Grün: 300 + 300 = . Beim zweiten 300 hat sie wieder radiert. So ist es einfacher. Es wird schon anstrengend. Zeit fertig zu machen. Eine Rechnung mit zwei großen Zahlen wollte Erna 2 aber schon dabei haben.
(46) Für das Ergebnis wechselt sie wieder zu Orange-Hellbraun: 600. Das hat sie eilig hingeschrieben, wie man an den schwungvollen Ziffern sieht.
(47) Es ist noch einiges zu tun. Erna malt den Oberkörper, naja das Leiberl, rosa an, und dann noch die Schuhe. Sie sieht Erna 2 an: Am besten sind ihre Haare gelungen, da hat sie an Papa gedacht, der bewundert ihr ‚sonniges‘ Haar.
(48) Mit Papa ist das Rechnen locker. Wenn er sich zu ihr setzt – gar so oft hat er ja nicht Zeit – da spürt sie, wie Rechnen locker wird. Papa hätte vorhin beim ‚Verschreiber‘, als sie 50 = geschrieben hat, nicht radiert. Sondern Papa hätte – Erna denkt nach – ja! Papa hätte 50 = 50 geschrieben. Oder: 50 = 40 + 10 geschrieben, also das Ergebnis vorangestellt. Aber geht das bei Frau Brauer, ihrer Lehrerin? Die wirkt auch ziemlich streng. Und manchmal weiß Erna nicht, ob sie selbst, wie beim Radieren, oder ob ihre Lehrerin unsicher ist. Komisch. Und wenn sie jetzt die fertig angemalte Erna 2 ansieht, dann merkt man das Lockere von Papa vor allem in ihren Haaren und den bunten Farben. Aber auch das Unsichere, das es Frau Brauer recht machen soll, ist da. Erna weiß nicht genau, woran man das Unsichere sieht. Aber es ist auch da in der gezeichneten Erna 2. Erna wird Papa fragen, ob er 50 = 50 geschrieben hätte. Und jetzt macht sie das Blatt fertig. Vielleicht sagt Frau Brauer dann: Schön, da kannst du stolz sein! – Aber: ‚Stolz‘ ist etwas anderes als ‚schön‘. (Ob das Frau Brauer auch so sieht?) Und was sie geschrieben hat, ist noch einmal was ganz anderes: „Ich Liebe Rechnen“. Toll.
(49) Rechts oben ist noch einiger Platz frei. Sie beginnt in der Mitte mit 6, dann weiter mit 20, und auch noch 70.
(50) Ein Platz für eine Rechnung ist auch noch frei: 12 + 2 = .
(51) Noch ein Stiftwechsel: 14.
(52) Fertig? – Der Blick der Verfasserin dieses Blattes 18.10.2013 (‚Land Des Rechnens‘), Erna 2, gleitet noch einmal prüfend über ihr Werk. – Fertig!
(Weiter zu: Vertiefende Auswertung der (re-)konstruierten Neuerzählung des Blattes)