(Davor: Übergang zu vertiefender Analyse)
Für die wissenschaftliche Analyse eines Untersuchungsgegenstandes, insbesondere eines Bildes, bildet dessen sprachliche Erfassung eine wichtige Grundlage (siehe Kapitel 1.1.6 sowie 6.2 hinsichtlich Theoriesprache, aber auch Kapitel 5.3, EXKURS 4: Die Kraft der Schriftsprache im Erkenntnisprozess). Nun wird also die sprachliche Erfassung des konkreten Untersuchungsgegenstandes in einem knappen Zugriff ausgebaut:
Das Blatt in seiner Gesamtheit
Auf diesem hellblauen Blatt wimmelt es von bunt geschriebenen Zahlen und Rechnungen. Links oben auf dem querliegenden Blatt steht „Land Des Rechnens“, in der Mitte oben das Datum 18.10.2013und weiter rechts, nicht so weit oben, Erna(wobei es sich beim Namen, wie bei allen Blättern, um ein Pseudonym handelt, das hier, deutlich als darüber gelegtes Feld ersichtlich, den Originalnamen überdeckt; die anschließende Ziffer 2 ist original belassen). Inmitten der bunten Zahlen und Rechnungen zeigt bzw. zeichnet sich die Proponentin dieses Geschehens: Erna 2. Eine große Sprechblase schließt an ihr fülliges, langes gold-blondes Haar seitlich ansteigend an. In dieser Sprechblase steht das Bekenntnis „Ich liebe Rechnen“ gefolgt vom Symbol eines Herzens. (‚Proponentin‘ steht wie in Kapitel 2.3.10 für: im Dialog initiativ; siehe auch: Zur Dynamik dieses Bildes).
Die Überschrift im Bild ‚spricht‘ für sich
Als Überschrift ist ‚Land Des Rechnens‘ im Bild zu erkennen, weil diese Wortgruppe – links oben – eine prominente Position vor allem hinsichtlich eines Schrifttextes einnimmt. Hat man diese wichtige Position einmal erfahren, kann man ihre Bedeutsamkeit vermutlich auch in gemischt-medialen Blättern, insbesondere wenn diese zu Bildern gerahmt werden, passiv wie auch aktiv wahrnehmen. Anscheinend kann die Autorin mit beiden Textsorten (Bild und Schrifttext) recht souverän umgehen, dafür spricht die vollzogene Platzierung dieser Sinneinheit. Dass möglicherweise diese Positionierung dieser Wortgruppe als Überschrift von einer Lehrerin nahegelegt worden war, tut dem Eindruck, dass sie in authentischer Harmonie zum übrigen Blatt steht, keinen Abbruch. Vielmehr kann diese Platzierung in diesem Fall als bemerkenswerte Integrationsleistung im Umgang mit einem vermutlich von außen kommenden Impuls verstanden werden. Die gerade formulierten Erwägungen zum Verständnis der Formulierung und Platzierung der Wortgruppe ‚Land Des Rechnens‘ als Überschrift werden in Kapitel 4.10: Vertiefende Auswertung – Nutzung der Neuerzählung des Blattes, wieder aufgegriffen (siehe insbesondere Kapitel 4.10.3.2: Der offene ‚Auftrag‘ und sein autonomes ‚Ergebnis‘). Hier erfolgt im Weiteren zunächst die Konzentration auf die Rekonstruktion jener Strukturen, die der Sinneinheit ‚Land Des Rechnens‘ immanent sind.
Eine Überschrift wie ‚Land Des Rechnens‘ könnte zwar in unterschiedlichen, über Schule hinausweisenden Kontexten vorkommen. An Beispielen für andere Kontexte wären zu nennen: Reportagen zum Beispiel über Rechenanlagen. Oder: Essays über das Treiben an der Börse oder an einer Hochschule für Mathematik oder Informatik. Oder: Reiseberichte über eine ökonomisch besonders erfolgreiche Region. Doch der Kontext Schule ist besonders naheliegend, insofern mit ‚Rechnen‘ eine Kulturtechnik angesprochen ist, die man vor allem in der Schule erlernt. Schulen als ‚Land‘ zu bezeichnen wäre allerdings etwas weit hergeholt, auch wenn an Schulen viele eigentümliche Regeln gelten, so sind Schulen doch (von Weitem erkennbare) Institutionen in einem Land. Auch zu solchen Erwägungen regt die etwas ungewöhnliche Formulierung dieser Überschrift an.
In der neu erzählten Geschichte über die Entstehung des Blattes mit der Überschrift ‚Land Des Rechnens‘ findet die Proponentin Erna 2 die (Formulierung der) Überschrift ‚schön‘ (siehe Sequenz 15 und 42). Das heißt wohl, ihre Phantasie wird angeregt, und vielleicht löst diese Überschrift ihr spielerisches Tun in der Ausführung des Blattes aus.
Nun zur immanenten Struktur dieser Wortgruppe, von der anscheinend eine dynamische oder generative Wirkung für die weitere Gestaltung und Nutzung dieses Blattes ausgeht:
Die Eröffnung der Wortgruppe bzw. Sinneinheit mit ‚Land …‘ weitet den Blick. Denn ein Land ist groß, hat Grenzen und Regeln. Ein Land ist so groß, dass man darin leben kann. Ein Land hat typische Lebensgrundlagen, die die Landsleute prägen.
Die Erweiterung der Sinneinheit zu ‚Land Des …‘ unterstreicht, dass etwas Ungewöhnliches angesprochen ist, sonst würde man den Artikel ja klein schreiben. Aber abgesehen von der ungewöhnlichen Schreibweise dieses Wortes, das offensichtlich ein Artikel ist, also den Konventionen der deutschen Sprache nach klein zu schreiben wäre, ist (sequenzanalytisch) zu fragen: Welche Optionen sind nun – durch den bestimmten Artikel im zweiten Fall – eröffnet? Die naheliegende Fortsetzung an dieser Stelle wäre, einen Besitzer oder eine Besitzerin dieses Landes anzuführen. Da ist die Auswahl natürlich riesig. Als Österreicher fällt mir noch die Bundeshymne ein: „Land der Berge, Land am Strome, / Land der Äcker, Land der Dome, / Land der Hämmer, zukunftsreich! (…)“. In dieser Nationalhymne ist der Wes-Fall als Bezugs-Fall, der eine Verbindung zu etwas Typischem oder Prägendem dieses Landes herstellt, in Verwendung.
Die folgende Wortgruppe ‚… Des Rechnens‘ betont eine Tätigkeit, die gewichtig, typisch, prägend, ja besitzergreifend wirkt. Die Operationsweise Rechnen erlangt somit Gewicht und Aufmerksamkeit. Diese Operationsweise, oder schlichter gesagt: Rechenregeln haben die Welt (und alle Länder) verändert – und tun das immer noch. Ein Hinweis auf die großen Bereiche Gesellschaft, Wirtschaft, Technik, Wissenschaft und Geschichte sowie Künstliche Intelligenz mag genügen, um anzudeuten, wie bedeutsam diese Operationsweise ist.
Zusammenfassend wird festgehalten: Die Sinneinheit ‚Land Des Rechnens‘ wurde aufgrund ihrer Platzierung bereits als Überschrift bezeichnet. In der vertieften Rekonstruktion der inneren, immanenten Struktur dieser kurzen Sequenzkette wurde ihre Dynamik und ihr generatives Potential freigelegt. Die Sinneinheit ‚Land Des Rechnens‘ ist demnach ein wichtiges Bedeutungs- und Darstellungselement, das von Erna in das Reflexionsblatt integriert wurde. Dadurch bringt die Verfasserin des Blattes zum Ausdruck, dass sie sich dieser komplexen, offenen und inspirierenden Aufgabenstellung stellen will.
(Weiter zu: Der rätselhaften Suggestion methodisch nachspüren)