(Davor: Eine (re-)konstruierende Neuerzählung des Blattes in 52 Sequenzen)
Die Neuerzählung des zu untersuchenden Blattes erfolgte nicht nur in ausdrücklicher Anlehnung an eine Sequenzanalyse,sondern auch unter Beachtung des methodischen Postulats zur gedankenexperimentellen Neuerzählung des Reflexionsblattes (siehe auch Kapitel 4.7).
In der Neuerzählung wurde ja einerseits darauf geachtet, dass die Narration möglichst flüssig voran ging (ähnlich dem vermutlich flotten Entstehungsprozess des Blattes zum Bild), und sequenziell erfolgte, indem eine Vielzahl (etwa 52) von manifesten Handlungsvollzügen aus dem zu analysierenden Bild aufgegriffen wurden. Andererseits wurden in die zügige Neuerzählung überdies etliche methodische Erwägungen und Argumente eingebaut, die allerdings erst einer vertiefenden Auswertung bedürfen, um den Kriterien einer objektiv-hermeneutischen Rekonstruktion zu entsprechen. Diese Auswertung erfolgt weiter unten (Kapitel 4.10 möglichst anschaulich, nämlich in einem Wechselblick, der (A) auf das zu analysierende Blatt, (B) auf die bereits methodisch angereicherte Neuerzählung dieses Blattes und (C) auf methodologische Kriterien gerichtet ist. Zu diesen Kriterien (C) tragen die folgenden Unterscheidungen bei.
Unterscheidung: Lebenspraktische und methodologische Perspektivität
Worin besteht der Unterschied zwischen lebenspraktischer und methodologischer Perspektivität? Oevermann gibt in seiner Abschiedsvorlesung, in der er einen Metablick auf das analytische Paradigma (analytisch im Unterschied zu praktisch) von ‚Krise und Routine‘ wirft, und dabei auch das „Herzstück“ der Objektiven Hermeneutik, die Sequenzanalyse erläutert, auf diese Frage folgende Antwort:
Lebenspraxis vollzieht sich letztlich in einer ständigen Verkettung solcher Sequenzstellen in eine offene Zukunft, so daß wir sie auch als einen Bildungsprozeß bezeichnen können. Theoretisch, also der Möglichkeit nach, ist jede Sequenzstelle eine Krisenstelle. Das kann allerdings nur der handlungsentlastete Sequenzanalytiker so sehen, der gehalten ist, die eröffneten Möglichkeiten, unter denen zu wählen ist, sorgfältig auszubuchstabieren (Oevermann 2016, S. 66).
Bemerkenswert an diesem Zitat ist zunächst aus bildungswissenschaftlichem Interesse die „letztlich[e]“ Gleichsetzung von „Lebenspraxis“ und „Bildungsprozessen“. Das hängt auch mit dem hohen Abstraktionsgrad dieser Argumentation zusammen.
Zur Begründung dieser Analogie wird geltend gemacht, dass es sowohl in der Lebenspraxis als auch in Bildungsprozessen zum Vollzug ständiger „Verkettung solcher Sequenzstellen in eine offene Zukunft“ kommt. Im Wesentlichen wird die offene Zukunft betont, also dass das jeweilige Subjekt selbst seinen Weg in die – ungewisse – Zukunft vollziehen muss, und dabei autonom ist und wird.
Eine „offene Zukunft“ bedeutet, dass die weitere Entwicklung entweder nicht oder nur bis zu einem gewissen Grad determiniert ist. Vor allem durch das Wagen und Erproben von Krisenlösungen loten wir als Praktiker*innen unsere Möglichkeiten zwischen offener Zukunft und tatsächlich oder vermeintlich determinierenden Verhältnissen immer wieder neu aus. Unsere Autonomie wird dabei durch Reflexion der Krisensituation und ihrer Bewältigung gefestigt.
Als handlungsentlastete Sequenzanalytiker sind wir demnach in der Lage, sogar an jeder Sequenzstelle – allerdings nur „theoretisch, also der Möglichkeit nach“ – eine Krisenstelle „sorgfältig auszubuchstabieren“, also gedankenexperimentell zu konstruieren.
Das heißt, auch in bereits routiniert eingeschliffenen Abläufen (genauer: Ketten von Sequenzstellen), kann man an den einzelnen Sequenzstellen auf diese handlungsentlastete Weise jene eröffneten Möglichkeiten, also Handlungsalternativen, entdecken, die in eine „offene Zukunft“ führen könnten (siehe dazu auch die These 10 in Kapitel 1.11.1). Allerdings muss man dafür gleichsam aus der Praxis heraustreten – und als „handlungsentlasteter Sequenzanalytiker“ operieren, und dabei Möglichkeiten, die „theoretisch“ bestehen könnten, „ausbuchstabieren“, also gedankenexperimentell Lesarten formulieren.
Zwei Parameter führen zur Dialektik von Determination und Autonomie
Nun wird die Unterscheidung hinsichtlich der zwei Parameter (wieder auf sehr allgemeiner Ebene) noch weiter getrieben. Diese Unterscheidung ist in Kapitel 2.2, allerdings mit einer etwas anderen Stoßrichtung, nämlich zur Logik der Fallrekonstruktion in Kontrast zur Subsumptionslogik, bereits ausgeführt. Daher kann hier sehr knapp darauf Bezug genommen werden. Dort wurden zwei Parameter skizziert, die das Kernstück der Sequenzanalyse ausmachen:
Der Parameter I ‚beantwortet‘ also die Frage: Welche Anschlussmöglichkeiten waren für die jeweilige Handlung grundlegend? Der Parameter II ‚klärt‘ die Frage: Welche Auswahlentscheidung zeigt sich in der konkreten Ausdrucksgestalt?
In der Rekonstruktion des Wechselspiels dieser beiden Parameter kann jeweils konkret die Dialektik von Determination und Autonomie der Lebenspraxis aufgezeigt werden. Die methodologische Relevanz des Wechselspiels dieser beiden Parameter wird hier zunächst sehr allgemein angesprochen, bevor vertiefend, konkret und anschaulich auf die (re‑)konstruierende Neuerzählung des zu untersuchenden Blattes eingegangen wird. Im Glossar methodologischer Grundbegriffe ist in Kapitel 6.9 ‚Sequenzanalyse‘ auch ein Modell am Beispiel des Grußes skizziert. Überdies werden in Kapitel 6.8 (‚Krise und Routine‘ –das [analytische] Paradigma der Objektiven Hermeneutik) auch typische Äußerungsformen in Krisenkonstellationen, sowie die methodischen Zugriffsmöglichkeiten auf Manifestationen von Krisen abgehandelt. Würde es nicht viele unterschiedliche Formen von Krisen sowie deren Erlebnis- und Erfahrungsweisen, aber auch deren Bewältigung geben, hätten die bereits in den Kapiteln 1.8 und 1.9 abgehandelten drei Modi des Fallverstehens keine entsprechende Grundlage. Dort wird gezeigt, niemand hat ein Privileg auf das Verstehen von Krisen und deren Lösungen. In diesem Verständnis gilt das natürlich auch bezüglich Bildung, denn Bildung ist sehr schlicht gesagt: Krisenerfahrung. In diesem Zusammenhang darf allerdings daran erinnert werden, dass die Krise der Neugierde oder der Muße gerade im Bildungsbereich von besonderer Relevanz ist, also unter ‚Krise‘ nicht vornehmlich Katastrophen verstanden werden (siehe Kapitel 6.8.4 sowie 1.11, Exkurs 1).
‚Bildung‘ als autonome Krisenerfahrung vs. ‚Lernen‘ als Routine
Im hier betonten methodologischen Zugang zur ausführlichen Lesart bzw. (re‑)konstruierenden Neuerzählung (Kapitel 4.8), wird die Unterscheidung zwischen ‚Bildung‘ als Krisenerfahrung und ‚Lernen‘ als Routine noch einmal im krisentheoretischen Verständnis ausgeführt (siehe auch Kapitel 1.11.1.1):
Dass Bildungsprozesse immer auch Lernprozesse einschließen und ohne diese nicht denkbar sind, liegt auf der Hand. Während aber der Begriff des Lernprozesses oder des Lernens überdehnt wäre, wenn er über das hinausginge, was die Aneignung und Beherrschung vorgegebener Praktiken und vorgegebenen Wissens, in sich selbst klassische Formationen der Routine, im Kern bedeutet, bleibt der Begriff der Bildung nicht beim kreativen und selbsttätigen Problemlösen stehen, sondern bezieht sich vor allem auf die Bewältigung welcher Krisen auch immer, seien es von außen unbeabsichtigt induzierte, in Gestalt von Entscheidungsalternativen selbst erzeugte oder in Muße selbst hergestellte. Die Autonomie des Subjekts konstituiert sich in der selbständigen Krisenbewältigung, und nur in der Krisenbewältigung konstituieren sich neue Erfahrungen. In der Routine macht man keine neuen Erfahrungen, man wendet sie darin nur an (Oevermann 2009, S. 36f.).
Zunächst wird ausdrücklich betont, dass die „Aneignung und Beherrschung vorgegebener Praktiken und vorgegebenen Wissens“ für Bildungsprozesse unverzichtbar ist. Sodann wird idealtypisch und krisentheoretisch die Trennlinie zwischen ‚Lernen‘ als Basis oder „Routine“ und ‚Bildung‘ als „selbständige Krisenbewältigung“ proklamiert. Dabei wird auch betont, der „Begriff der Bildung“ verbleibe nicht bei einem kreativen oder selbsttätigen Umgang mit Routinen, verstanden als „Beherrschung vorgegebener Praktiken und vorgegebenen Wissens“. Vielmehr beziehe sich Bildung „vor allem auf die Bewältigung welcher Krisen auch immer“, denn „nur in der Krisenbewältigung konstituieren sich neue Erfahrungen“. Somit werden drei Unterscheidungen zum Kriterium für die vertiefende Auswertung:
- In der Unterscheidung von lebenspraktischer und methodologische Perspektivität wird bei Letzterer die Handlungsentlastung der Sequenzanalytiker*innen hervorgehoben (Kapitel 4.9.1). Außerdem beziehen sich Wissenschaftler*innen ‚nur‘ auf Protokolle der Wirklichkeit, die sie untersuchen (siehe Kapitel 6.4). Demgegenüber ist bei den Praktiker*innen deren Präsenz im Hier und Jetzt der jeweiligen Handlungssituation zu betonen, was einen Handlungsdruck und eine ganz selbstverständliche Eile der Lebenspraxis bewirkt, sodass im praktischen Handeln Routinen solange bevorzugt werden, bis man mit diesen Routinen scheitert, also in eine Krise gerät (siehe dazu auch Kapitel 6.5 und 6.8).
- Die Unterscheidung von zwei Parametern, jenem, der die eröffneten Möglichkeiten (Parameter I) und jenem, der die Auswahlstruktur (Parameter II) charakterisiert, führt zur konkreten Dialektik von Determination und Autonomie der Lebenspraxis (Kapitel 4.9.2 sowie 6.9).
- Schließlich kann die Entfaltung der Lebenspraxis als Bildungsprozess verstanden werden, wobei ‚Bildung‘ sich aus Krisen und deren autonomen Lösungen, also aus autonomen Krisenerfahrungen ergibt, demgegenüber wird ‚Lernen‘ als Übernahme von Routinen verstanden (Kapitel 4.9.3 sowie 6.8.2 sowie Exkurs 1 in Kapitel 1.11).
Methodische Distanz im praktischen Fluss intuitiver Interpretation
Die gerade allgemein methodologisch begründeten Kriterien sollen dazu beitragen, jene Distanz zu schaffen, die für die wissenschaftliche Analyse von Bildungsprozessen in ganz besonderem Maß notwendig erscheint (siehe auch die Kapitel 1.1.6 sowie 6.2 zu Theoriesprache). Diese Distanz ist nicht nur geboten, weil Erlebnisse und Erfahrungen zu Schule, Lernen und Bildung unser Leben vor allem von klein auf begleiten, sondern auch, weil im Rekonstruktionsprozess immer wieder intuitive Erfahrungen sowohl aus der Perspektive von Kindern und Schüler*innen als auch von Pädagoginnen genutzt und benötigt werden, diese aber zunächst gar nicht distanziert ablaufen, denn sie entspringen einem Naheverhältnis und unserer Fähigkeit zu Resonanz und Mitgefühl (Einfühlung). Siehe dazu auch die Hinweise auf drei Methodenschritte in dieser Website oder das Kapitel 2.4.7 in der Langfassung der Studie: Dort wird eine methodische Variante aufgezeigt, wie unterschiedliche Lesarten bei entsprechender Auswertung zu methodisch und theoretisch begründeten Ergebnissen führen. Auch im Folgenden geht es darum, die (re‑)konstruierende Neuerzählung methodisch zu nutzen, um das zu untersuchende Blatt und seine Fakten wissenschaftlich nachvollziehbar zu verstehen.
Letztlich kommen alle drei Modi des Fallverstehens (siehe Kapitel 1.8) zum Tragen. Aber es ist nach meiner Erfahrung bei Rekonstruktionen und Interpretationen in Einzelarbeit wie auch in Gruppen und Forschungswerkstätten eine besondere Herausforderung, sich beim Formulieren von Lesarten von der Eile und Dynamik, die für das Fließen von Intuition in der Praxis wichtig und typisch sind, zeitweise ausdrücklich zu lösen, um jene Distanz oder Muße zu ermöglichen, in der die Gedanken frei werden für neue Erkenntnisse.
In den Erzählsequenzen von Sequenz (1) bis zum ersten Satz von Sequenz (10) wurde eine Metaperspektive eingenommen (siehe das folgende Kapitel 4.10.1). Ab dem zweiten Satz der Erzählsequenz (10), „Das ist anders als sonst“, kommt die Perspektivität Ernas (bzw. von Erna 2) in der Neuerzählung des Blattes bis zum Schluss, also bis zur Erzählsequenz (52) zur Anwendung. Der Wechsel der Erzählperspektiven kündigt sich allerdings schon mit Sequenz (8) und (9) an. Und im Hintergrund wirkt der generative Rahmen des blauen Blattes und des offenen ‚Auftrags‘ zur (autonomen) Reflexion. Diese beiden Blickwinkel und der generative Rahmen ergeben die Gliederungspunkte der folgenden vertiefenden Auswertung.
(Weiter zu: Sequenzen 1 bis 10: Sinnstiftung aus einer Metaperspektive betrachtet)