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Selbstbewusste Reflexion als offener ‚Auftrag‘ an dieser Schule

(Davor: Sequenzen 10 bis 52, gruppiert: Ernas Perspektiven auf ihre Blattgestaltung)


Nun wird die auf dem Blatt ersichtliche Überschrift ‚Land Des Rechnens‘ als offener ‚Auftrag‘ zur selbstständigen Reflexion auf einem Farbblatt bzw. ‚Reflexionsblatt‘ noch einmal thematisiert. Bereits im Zuge der sprachlichen Erfassung des Bildes (siehe auch Kapitel 4.4) erfolgte eine Rekonstruktion jener Strukturen, die der Sinneinheit ‚Land Des Rechnens‘ immanent sind. Dort heißt es:

Zusammenfassend wird festgehalten: Die Sinneinheit ‚Land Des Rechnens‘ wurde aufgrund ihrer Platzierung bereits als Überschrift bezeichnet. In der vertieften Rekonstruktion der inneren, immanenten Struktur dieser kurzen Sequenzkette wurde ihre Dynamik und ihr generatives Potential freigelegt. Die Sinneinheit ‚Land Des Rechnens‘ ist demnach ein wichtiges Bedeutungs- und Darstellungselement, das von Erna in das Reflexionsblatt integriert wurde. Dadurch bringt die Verfasserin des Blattes zum Ausdruck, dass sie sich dieser komplexen, offenen und inspirierenden Aufgabenstellung stellen will (siehe Knappe sprachliche Erfassung des Bildes; siehe auch Kapitel 4.4).

Erna, die Verfasserin des Blattes und Proponentin (des Dialogs, zu dem sie mit diesem Blatt beiträgt) bekundet also durch die Hereinnahme dieser Überschrift an prominenter Stelle, auf der Bühne des hellblauen Blattes, ihren Willen, sich der offenen Aufgabe (die in dieser Überschrift steckt) zu stellen.

Man kann auch sagen, Erna bekundet ihren Willen und ihre Bereitschaft im Rahmen ihrer Schule einen offenen ‚Auftrag‘ zur selbständigen Reflexion ihres Könnens im Bereich Rechnen des Pflichtfaches Mathematik zu erfüllen. Dabei begibt sie sich autonom in die weitgehend vorgeschriebene, also fremdbestimmte, Rolle einer Schülerin.

Dies ist allerdings eine sehr weitgehende Aussage, auf die vor allem die Forschungsfrage 3 (Kapitel 1.3) fokussiert. Somit ist höchste Sorgfalt beim weiteren Vorgehen geboten.

Erfahrungen zum Umgang mit der Paradoxie von ‚Aufträgen‘ zur Autonomie

Zunächst möchte ich Erfahrungen im Umgang mit der paradoxen Konstellation ansprechen, die durch ‚Aufträge‘ zur Selbständigkeit, zu Autonomie oder Freiheit gegeben ist. Diese Paradoxie beschäftigt Philosophen und Pädagogen spätestens seit der griechischen Klassik. Hier soll ‚nur‘ mit den Mitteln der Objektiven Hermeneutik darauf eingegangen werden. Dieser methodologische Ansatz sieht seine Aufgabe darin, derartige Fragen auch empirisch durch Fallrekonstruktionen zu beantworten. Allerdings erweist sich der Zugang gerade zur angesprochenen Paradoxie bei konkreten Fallrekonstruktionen als schwierig.

Meine Erfahrungen im Umgang mit der Paradoxie von ‚Aufträgen‘ zu selbständiger Reflexion betreffen drei Punkte: Erstens die Herausforderung kontextfrei zu interpretieren; zweitens den Bildungsbegriff im Unterschied zum Lernbegriff hochzuhalten; und schließlich drittens den konkreten offenen ‚Auftrag‘, der ins Reflexionsblatt integriert ist, zu erforschen:

Erstens: Sogar in methodisch höchst versierten Runden, die ich ausdrücklich zu kontextfreien Blattanalysen eingeladen hatte, wurde ich (als Fallbringer) hartnäckig nach der ‚Aufgabenstellung‘ oder dem ‚Auftrag‘ gefragt, dem sich die Autorin des Blattes stellen sollte. Ich habe dann (ebenso hartnäckig) auf das Blatt verwiesen, aus dem die Aufgabenstellung, wenn es sie denn gab, herauszulesen sei. Denn der Forschungsfokus läge auf Autonomie des zu erforschenden Werkes (siehe Forschungsfrage 1 in Kapitel 1.3 sowie Exkurs 1, insbesondere: These 14 zur Rezeption des (Kunst-)Werks in seiner Eigenlogik), daraus sei abzuleiten, das Werk müsste ‚für sich sprechen‘ (wenn es tatsächlich autonom wäre). Das erwähne ich, um darauf hinzuweisen, wie schwer es sogar methodisch einschlägig ausgebildeten Wissenschaftler*innen fällt, ohne Kontextwissen zu interpretieren. Aber wie sonst soll man ermitteln, ob ein Werk oder eine andere Äußerung ‚für sich‘ und ‚aus sich‘ spricht, also autonom (ohne zusätzliche Erläuterung) sich verständlich machen kann?

Zweitens: Der Grund dafür dürfte einerseits in der Schwierigkeit liegen, sich von jenem Denken über Schule zu lösen, bei dem Schule auf Lernen reduziert wird, und Bildung synonym mit Lernen verwendet wird (zur Unterscheidung von Lernen und Bildung aus krisentheoretischer Sicht siehe These 10 sowie Kapitel 1.11.1.1 und Kapitel 6.8.2 des Glossars). Andererseits ist das Wissen um die faktische Aufgabenstellung zwar sehrwichtig, aber im Forschungsprozess zur wissenschaftlichen Gewinnung dieses Wissens darf die folgende Frage (und deren methodisch angemessene Beantwortung) nicht übersprungen werden: Welcher Aufgabe hat sich das Kind – mit eigenen Mitteln und Erfahrungen, und somit authentisch, reflexiv, selbstreflexiv (vgl. Forschungsfrage 2 sowie den Exkurs 1) – im untersuchten Datenmaterial tatsächlich gestellt?Und: Wie wurde diese Aufgabe gelöst?

Drittens: Die Überschrift im Bild (‚Land Des Rechnens‘) wurde bereits als eine dynamisch generative Bedeutungsstruktur gewürdigt. Dabei wird festgestellt: Durch die Hereinnahme der Überschrift in dieses Blatt bringt die Verfasserin des Blattes zum Ausdruck, dass sie sich dieser komplexen, offenen und inspirierenden Aufgabenstellung stellen will. Gleich schwenkt der Fokus vom Wollen zur Erforschung der Umsetzung dieses Wollens und dieser Bereitschaft.

Der offene ‚Auftrag‘ und sein autonomes ‚Ergebnis‘

Nun wird weitergeschaut, zu welchem ‚Ergebnis‘ die offene Aufgabenstellung geführt hat.

In Blatt 18.10.2013: ‚Land Des Rechnens‘, ist also allem Anschein nach eine Kostprobe der von einer Schülerin der zweiten Schulstufeerwarteten Rechenkompetenz zur Performanz und persönlichen (authentischen) Darstellung gebracht: So ist die persönliche ‚Bewirtschaftung‘ des sogenannten Zahlenraumes bis 1000 durch bunte Ziffern und Zahlen anschaulich gemacht. Auch Plus- und Minus-Rechnungen sind sowohl als Aufgabenstellung, jeweils in einer Farbe, als auch als Lösung,in einer anderen Farbe, präsentiert. Darüber hinaus ist eine reflexive Selbstdarstellung Ernas als Proponentin in diesem ‚Land Des Rechnens‘, in dem sie sich gleichsam ‚niedergelassen‘ hat, platziert. Man kann auch sagen, sie ‚bestellt‘ dieses Land, gestaltet und bewohnt es. Mehr noch: Sie spricht auch zu diesem Land und aus diesem Land heraus,hin zu Dialogpartner*innen. Auf Grund dieser zum Ausdruck gebrachten dialogischen Haltung wird sie hier als ‚Proponentin‘ bezeichnet. Erna nimmt also die ‚Positionalität‘ (Kapitel 1.1.5.1) einer Dialogpartnerin ein, die etwas zu sagen hat und auf Resonanz hofft, wie sie auch selbst in Resonanz zum offenen ‚Auftrag‘ – und zur konkreten ‚Auftraggeberin‘ – steht.

Sowohl die Bewirtschaftung des Zahlenraumes bis 1000 als auch die Selbstdarstellung der Proponentin im dargestellten Rechenraum kann als authentisch in einem doppelten Sinn gelten:

Zum einen zeigt sich in der Darstellung der Gestalt der Proponentin, wie sie um die von ihr als Schülerin geforderte Auseinandersetzung und Kompetenzentfaltung in diesem Raum mit seinen (Rechen-)Regeln ringt.

Zum anderen zeigt die Darstellung Ernas als Proponentin, dass Erna mit einigen Herausforderungen dieses Landes bereits spielerisch umgehen kann.

Ersteres (den Umgang mit Anforderungen und Vorgaben) verdeutlicht sie in einer gewissen Angespanntheit der dargestellten Gestalt, mit gestreckten Gliedern und geballten Fäusten. Zweiteres zeigt sich an den bunten Zahlen und Rechnungen. In beidem liegt Hingabe, die sprachlich kaum prägnanter auszudrücken ist: „Ich liebe Rechnen“.


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