(Davor: Allgemeine methodologische Kriterien)
Aus der Metaperspektive wurde zunächst die Aufmerksamkeit auf eine kleine Auffälligkeit, nämlich eine Korrektur ungefähr in der Mitte des Blattes gelenkt. Dort ist zu sehen, dass die Sprechblase anscheinend zu klein geworden ist, für die Größe des Inhalts des Satzes: „Ich liebe Rechnen“. Dabei suchte der sequenzanalytische Blick nach einer Sequenzstelle, an der die bewusste Gestaltung erkennbar wird. In diese Erwägungen zur sequenziellen Sinnstiftung im Analysematerial wie auch der darauf bezogenen Neuerzählung fließen folgende Aspekte ein:
Die Bildgestaltung wird zunächst an der Lage, der Größe, der Form und der Richtung der Sprechblase thematisiert. Sprachinhalte hingegen werden dann aus dem, was in der Sprechblase geschrieben steht, herausgelesen. Hinzu kommt von Anfang an das Bemühen, den sequentiellen Prozess der Entstehung der Sinnstiftung nachzuempfinden. Dabei fallen auch kleine Irritationen auf, und zwar sowohl in der Bildgestaltung als auch in den Sprachinhalten. Gleichzeitig zeichnet sich ab, dass es sich um ein Bild mit integrierten sprachlichen Aussagen, sowie bunten Ziffern, Zahlen und Rechnungen auf einem hellblauen Untergrund handelt.
Dieses In-einander-Wirken verschiedener Medien der Sinnstiftung stellt an die Rekonstruktion des Datenmaterials, das als Protokoll einer Lebenspraxis verstanden wird, beträchtliche Herausforderungen. Denn die jeweiligen Medien und ihre je eigene Art, Sinn- und Bedeutungsstrukturen zu konstituieren, erheischen auch je angemessene Verfahrensweisen der Rekonstruktion. Siehe dazu die vier EXKURSE: 1. zur Autonomie des Kunstwerks (Kapitel 1.11), 2. zur Bildhermeneutik (Kapitel 2.3.6), 3. zur sozialen Konstitution des Individuums (Kapitel 2.5) und 4. zur Schriftsprache (Kapitel 5.3). Aber immerhin scheint die Sequentialität der Sinnkonstituierung als Gemeinsamkeit hervorzutreten, auch wenn diese nur auf sehr allgemeiner Ebene zutrifft. Bemerkenswert ist, dass sowohl die sequenzielle Sinngenerierung als auch das darauf bezogene Sinnverstehen offensichtlich auch Kindern (oder gerade diesen) zugänglich ist. Hervorheben möchte ich aus den Erzählsequenzen (1) bis (10), die als Anmerkungen aus der Metaperspektivedes Forschers verstanden werden, die Sequentialität als Sinnstiftungsprozess. Allenfalls kommen auch Ergänzungen aus bereits im Verlauf der Studie gewonnenen Erkenntnissen hinzu:
- Das Blatt wirkt als typisch synchrones, aber auchrätselhaft dynamisches Bild, dessen hellblaue Blattfarbe zur gerahmten Bühne des Geschehens wird (zu Farbe als Rahmen und Bühne siehe auch die Kapitel 1.9.3 sowie 2.3.11.2 und weiter unten 4.10.2.2). Der Hinweis auf die Blattfarbe – die das Blatt von der Umgebung abhebt und so zum Bild rahmt – ist bildhermeneutisch entscheidend, denn so wird das Verhältnis von Rahmen und Mitte als sinnstiftende Sequentialität bewusst (siehe den Exkurs zu Bildhermeneutik in Kapitel 2.3.6). Bildhermeneutische Erwägungen in den metaperspektivischen Anfangssequenzen (1) bis (10) der Neuerzählung des Blattes betreffen vor allem die diagonale Lage der Sprechblase in der Mitte des Bildes sowie deren Vergrößerung. Hinzu kommen die Beachtung der freihändigen Linienführung im Blatt oder die Entscheidungen zur richtigen Größe der Formen, oder wie und wo die Formen zusammentreffen oder entspringen. Denn davon hängt zum Beispiel ab, was mit welchen bildlichen Konnotationen in den Vordergrund rückt. Und schließlich wird aus der Kombination des im Bild zentralen Satzes („Ich liebe Rechnen“) und der Position der Sprechblase im Verhältnis zur dargestellten Gestalt gefolgert, dass es sich um die Proponentin Erna handelt.
- Zu den Aussage- und Darstellungselementen in Schriftsprache, die in das Bild integriert sind, zählt vor allem der Satz in der Sprechblase („Ich liebe Rechnen“), der nahe der bildepistemisch so wichtigen Mitte des Bildes platziert ist (in der Bildhermeneutik ein prominenter Ort, siehe Kapitel 2.3.6). Im Hinblick auf die Deutung des Blattes hinsichtlich der Schrifttexte ist die Wortgruppe ‚Land Des Rechnens‘ (links oben im Bild) nicht nur wichtig, sondern auch sowohl in jenen Sequenzen (1 bis 10), die bereits zur Metaperspektive gezählt wurden, als auch in den übrigen Sequenzen (10 bis 52), die als Perspektivität Ernas bezeichnet wurden, anscheinend sehr geläufig. Denn diese Wortgruppe wird augenscheinlich mühelos als Überschrift registriert und gedeutet (siehe das Resümee in Kapitel 4.11, insb. 4.11.2.8). Doch für die Rekonstruktion der schriftsprachlichen Elemente im Blatt sind vor allem die Struktureigenschaften der Schriftsprache im engeren Sinn maßgeblich, die in EXKURS 4 (Kapitel 5.3) ausgeführt sind, nur der dortige Punkt 9 sei hier hervorgehoben: Schriftsprachliche Ausdrucksgestalten sind […] autonome, selbstreferenzielle Gebilde. Das heißt, neben der wichtigen Frage der Position im Bild ergeben die sprachlichen Ausdrucksgestalten vor allem ein algorithmisch entstehendes autonomes Sinngeflecht. So gibt ein Wort, eine Wortgruppe oder ein Satz auch selbstreferenziell Auskunft über sich als Sprachelement. Auch das ist uns (als sprachlich und schriftsprachlich sozialisierten) Menschen höchst geläufig, das legen die Erzählsequenzen (7) bis (9) nahe, die dies aus der Schriftsprache schließen: So ist Erna nicht nur der Name, genauer der Vorname (allenfalls mit dem Zusatz „2“) der Verfasserin des Blattes, sondern auch der gezeichneten Gestalt, die zur Proponentin des dargestellten Geschehens wird. Demgegenüber weist die Erzählsequenz (6) beträchtliche Unsicherheiten bezüglich des Ursprungs der Sprechblase aus, denn diesbezüglich ist die Zeichnung einigermaßen mehrdeutig.
- Die Farben des Blattes und seiner Gestaltung spielen in der formulierten Metaperspektive (Sequenzen 1 bis 10) zwar keine herausragende, aber anscheinend eine selbstverständliche und doch wichtige Rolle. So ist in der Erzählsequenz (6) vom gelb strahlenden Haar die Rede. Auch dass ein leeres hellblaues Blattam Anfang des Prozesses der Gestaltung des Blattes vorgelegen sei, wird erschlossen. Farbblätter, bezeichnet als „Bunte Blätter“ (Kapitel 3.9), sind ein wesentlicher Bestandteil der pädagogischen Praxis ‚Reflexionsblätter‘. Die Grundfarbe eines Reflexionsblattes soll zu eigenständiger Reflexion inspirieren (siehe weiter unten die Kapitel 4.10.2.2 und 4.11.2.8).
Im Zuge dieser Punktation wurden drei unterschiedliche Ausdrucksmedien, die für ‚Reflexionsblätter‘ typisch sind, thematisiert: Bild, Schriftsprache und Farbe. Es konnte gezeigt werden, dass sie je unterschiedlich zur sequentiellen Sinnstiftung beitragen. Dabei wurde auch deutlich, dass Sequentialität nicht als bloßes „temporales Nacheinander“ zu verstehen ist, sondern vor allem als Regelhaftigkeit bzw. Algorithmik, die in Bildern, Schrifttexten und bei Farbe verschieden operiert (Oevermann 2013, S. 75; siehe auch Kapitel 4.7 und 6.9.2).
In den ersten 10 Sequenzen wird Sinnstiftung vorwiegend aus der Metaperspektive betrachtet, demgegenüber wird (überlappend ab Sequenz 8) in den weiteren Sequenzen die Perspektive der Lebenspraxis – ihre möglichen Erwägungen und vor allem die dokumentierten einzelnen Handlungsfolgen – in den Vordergrund der Neuerzählung gerückt.
Der Erzähler schaut Erna 2 über die Schulter auf das fertige Bild– Sequenz 8
Aus der Perspektivität von Erna 2 werden also ‚wissend‘ ihre Gedanken zu ihren Handlungen – während sie rechnet, zeichnet und schreibt – formuliert. Dabei schaut der Erzähler aus der Metaperspektive wissend Erna 2 gleichsam über die Schulter auf das fertig gewordene Bild und erkennt:
(8) […] So, wie Erna 2 sich inmitten von farbigen Zahlen und Rechnungen dargestellt hat, wird sie zur initiativen Akteurin – also zur Proponentin – des dargestellten Szenarios, in ihrem ‚Land Des Rechnens‘.
Aus der Metaperspektive ist das Ganze des Bildes im Blick. Mit diesem Blick aufs gesamte Bild kommt es zur Einschätzung, Erna 2 sei als Proponentin des (dargestellten) Geschehens zu erkennen. Bei der gezeichneten Gestalt im Bild handle es sich um Erna 2 selbst. Erna 2 selbst müsste demnach den Satz in der Sprechblase: „Ich liebe Rechnen“, geäußert haben. Zur blattimmanenten Identifizierung der Proponentin Erna 2 trägt außerdem die Signatur im oberen Teil des Blattes bei, dort ist nicht nur der Vorname der Verfasserin, „Erna 2“, sondern auch das Datum „18.10.2013“ sowie die offene Aufgabenstellung als Überschrift „Land Des Rechnens“ ausgewiesen (dies ist als institutioneller Rahmen zu erkennen, den auch schon Ernas Schulleiterin Maria T. in Kapitel 3, insbesondere 3.5 und 3.6 ausgeführt hat).
Der Umstand, dass diese Überschrift von Erna 2 in etwas eigenwilliger Schreibweise ins Blatt übernommen ist (der Artikel „Des“ ist entgegen der üblichen Rechtschreibung groß geschrieben) weist darauf hin, dass die Autorin zu einer eigenständigen Form der Übernahme dieses ‚Auftrags‘ gefunden hat, und sich dieser Aufgabe persönlich stellt, nämlich sich mit ihrem Können, ihrer Phantasie und ihrer Beziehung zum Fach und zu dessen bereits erfahrenem Potenzial in ein selbstreflexives Verhältnis zu setzen und dies alles darzustellen.
Der ausführliche Bezug auf die Neuerzählung mag an dieser Stelle erstaunen (als ob die Neuerzählung anstatt des Blattes interpretiert werde). Dies ist aber mit einem bildhermeneutischen Argument begründet und geboten (siehe auch Exkurs 2 zu Bildhermeneutik in Kapitel 2.6). Es besagt, dass ein Bild der Versprachlichung bedarf, um es schließlich methodisch nachvollziehbar zu deuten, „weil wir von Anfang an Bilder als visuelle Protokolle nicht nur wahrnehmen, sondern auch lesen. Und das können wir nur, weil wir von Anfang an über eine letztlich sprachlich konstituierte Bedeutungsfunktion verfügen, in die wir Bilder als Bilder im Unterschied zu dem, was abgebildet ist […] einrücken“ (Oevermann 2014, S. 49). Das Verstehen eines Bildes erfolgt also letztlich sprachlich, auch (und gerade) wenn in dieses sprachliche Verstehen (Sprach‑)Bilder eingeschoben („eingerückt“) sein mögen (siehe dazu auch den Exkurs 4 zur Kraft der Schriftsprache im Erkenntnisprozess, Kapitel 5.3).
Das Hineinfinden in die sequenzielle Herstellung und Abfolge des gesamten Sinn- und Bedeutungsgebildes bedarf besonderer Aufmerksamkeit: Dadurch kann man an den Prozess der Entstehung des Blattes näher heranrücken, sich interpretierend intuitiv anschmiegen und die Rekonstruktionsschritte methodisch bewusster bestimmen.
Am Anfang wählte die Proponentin eine Farbe – Sequenz 9
Das fertige Blatt kann man darauf hin betrachten, wie es sich ganz am Anfang zugetragen haben könnte, bevor die Proponentin und Autorin des Blattes ihren ersten Strich oder Punkt auf das leere Blatt gesetzt hat:
(9) Bevor die Proponentin des ins Bild gebrachten Geschehens, Erna 2 also, auf dem Blatt zu schreiben, zeichnen, malen und rechnen begonnen hat, hat Erna 2 ein Blatt ausgewählt (sie hatte Zeichenblätter in vielen Farben zur Auswahl). Die Neu-Erzählung von ‚Land Des Rechnens‘, die ausdrücklich als (Re-)Konstruktion – also als Wieder- oder Neukonstruktion – des faktischen (fertigen) Bildes verstanden wird, ist nun am Anfang des Prozesses der Gestaltung des leeren hellblauen Blattes angelangt.
Dieses Argument (9) der erzählenden Neukonstruktion des Blattes ist insofern noch in der Metaperspektivität verfasst, als es über das Geschehen und dessen Anfang (gedankenexperimentell) berichtet. Die Auswahl eines Blattes in der nun vorliegenden Blattfarbe, musste am Anfang des Gestaltungsprozesses gestanden haben. „Die Farbe stellt also eine Qualität dar, die gewissermaßen ins Auge springt und von den sichtbaren Gegenständen einen deutlichen Eindruck auch in der Erinnerung hinterläßt.“ Mit diesem Satz wurde Oevermann (Oevermann 2000a, S. 443) in Kapitel 2.3.9 zitiert, als es darum ging, aufzuzeigen, inwiefern Erna im sehr ‚frühen‘ Blatt 01.10.2012 (Reiten) durch die vermutlich selbst gewählte Farbe Rot in eine Krise geraten war, als die Farbe des Blattes ihre Bleistiftstriche zu verschlucken schien (siehe auch Kapitel 1.9 sowie 2.3.11). Nun steht die Farbauswahl also (wieder?) am Anfang eines Reflexionsprozesses, der in einem weiteren, diesmal hellblauen, Blatt in Szene gesetzt wird.
Die Bedeutsamkeit der Blattfarbe wird auch durch jene Bezeichnung von Reflexionsblättern, die die Pädagogin Maria T. manchmal verwendet, unterstrichen. Sie lautet: „Bunte Blätter“, womit in der Praxis eine Inspiration und Bühne für Reflexion angesprochen ist (siehe Kapitel 3.9). Salopp formuliert: Auf die Qualität von Farbe braucht man Kinder nicht ausdrücklich hinzuweisen, sie ist ihnen ganz offensichtlich biologisch wie auch sozialisatorisch ‚mitgegeben‘.
(Weiter zu: Sequenzen 10 bis 52, gruppiert: Ernas Perspektiven auf ihre Blattgestaltung)