(Davor: Sequenzen 1 bis 10: Sinnstiftung aus einer Metaperspektive betrachtet)
Sequenz 10: „Das ist anders als sonst“ – Wechsel zu Ernas Perspektive
Während der erste Satz der Erzählsequenz 10 noch zur Metaperspektive zu rechnen ist, ist alles Weitere aus der Perspektive Ernas formuliert.
(10) Die Proponentin Erna 2 hat das leere zartblaue Blatt im Querformat zum Zeichnen bereit gelegt. Das ist anders als sonst. Denn das ‚Land Des Rechnens‘ – welch schönes, die Phantasie anregendes Sprachbild – erstreckt sich weit und in die Breite. Übungsblätter haben meist Linien und Vorgaben oder Angaben. Das ist aber etwas anderes. (Übungsblätter liegen aufrecht, im Hochformat, das will Erna 2 nicht.)
Mit dem Satz: „Das ist anders als sonst“, beginnt (gedankenexperimentell) ein Einblick in die Gedanken und Erwägungen der handelnden Erna, die sich dabei als Proponentin in ihrem ‚Land Des Rechnens‘ zur Darstellung bringt. Dadurch sollen allerdings auch Zwecke erreicht werden, die in den methodologischen Erwägungen (in den Sequenzen 1 bis 10) auf allgemeinerer Ebene angesprochen sind (Kapitel 4.10.1). Die Metaperspektive bleibt also im Hintergrund präsent, wenn ab nun die Ausführungen zur reflexiven Perspektive der Proponentin Erna in den Vordergrund rücken. Die reflexive Handlungsperspektive ist daran erkennbar, dass sie sich konkret und detailreich auf Handlungsschritte oder Entscheidungen bezieht, während die Metaperspektive vor allem auf Generalisierungen und Verfahrensweisen achtet. In der Feststellung: „Das ist anders als sonst“, fallen die beiden Perspektiven in eins: Diese Äußerung ergibt in beiden Perspektiven Sinn, denn ein Zeichenblatt im Querformat gelegt, lädt (allgemein) zu einer anderen Darstellungsweise ein, als eines in Hochformat. Die auf diese Feststellung („Das ist anders als sonst“) folgenden Ausführungen nehmen sodann darauf Bezug, welche innere Vorstellung das Sprachbild ‚Land Des Rechnens‘ in der Proponentin Erna 2 wachruft, es „erstreckt sich weit und in die Breite“. Diese Vorstellung wird schließlich zur Begründung für die Verwendung des „leere[en] zartblaue[n] Blatt[es] im Querformat“.
Sequenzen 11 und 12: Farbe, eine Qualität, die einen Unterschied macht
(11) Übungsblätter sind selten – nur – in Farbe und schon gar nicht leer. Erna 2 ist also bereit, auf diesem schönen, zartblauen leeren Blatt selber was zu machen. [Solche Gedanken und Gefühle könnten Erna 2 – also die Proponentin in dieser Erzählung – damals bewegt haben.]
(12) Das ist ein besonderes ‚buntes‘ Blatt. Zartblau, so wie manchmal der Himmel. Himmelblau ist die zweite Lieblingsfarbe von Erna 2, auch deswegen ist der Zweier gut. Meist ist ja Rot ihre Lieblingsfarbe. (Blätter in vielen Farben liegen im Kasten. Für Besonderes. Auch Rot ist dabei.) Erna wählte lieber Himmelblau.
Farbe steht also dafür, dass etwas „anders als sonst“ ist (siehe Sequenz bzw. Argument 10). Auch der Umstand, dass das Blatt „– nur – in Farbe“ also „leer“ ist, wird hervorgehoben, ebenso dass dieses Blatt „schön“ und „zartblau“ ist, wird gewürdigt. Dies rege an, „selber was zu machen“. Die innige Beziehung wird mit der Bezeichnung „Lieblingsfarbe“ deutlich. Ein Unterschied, der hier mit Farbe assoziiert wird, ist, dass dieses Blatt leer ist, was im Kontrast zu üblichen Übungsblättern erwähnt wird. Auch zwischen den Lieblingsfarben Hellblau und Rot wird unterschieden, „Meist ist ja Rot ihre Lieblingsfarbe“. Schließlich wird der Bezug zur Praxis an der Schule, nämlich „Bunte Blätter“ für die Darstellung von Reflexionen bereit zu halten, ausdrücklich angesprochen (siehe auch die Präsentation von Ernas Mappe durch die Schulleiterin Maria T. in Kapitel 3.9).
Sequenz 13: Die Zahl „2“ hinter „Erna“ – Eine Verbindung zu Blatt 29.10.2012 (Übung: 2–1=)?
Mit der Zahl „2“ hinter Erna hat es eine besondere Bewandtnis. Die folgende Erzählsequenz (13) könnte auch als eigenständige Lesart im Wechselblick auf beide Reflexionsblätter zu Rechnen stehen. Dabei fällt auf, dass der einleitende Satz eine Verbindung zum ersten Reflexionsblatt Ernas zu Rechnen, nämlich: Blatt 29.10.2012 (Übung: 2 – 1 = ), herstellt. Dieses Blatt ist merkwürdigerweise unsigniert geblieben (siehe Kapitel 2.7.2). Aus der Perspektive von Erna 2 klingt das folgendermaßen (Ernas mögliche Gedanken beginnen erst nach dem ersten Satz):
(13) Der Zweier hinter Erna, also Erna 2, stellt eine Verbindung her zu Erna 1. Aber das (Erna 1) – hat sie nie geschrieben. Damals hat sie ihren Namen gar nicht drauf geschrieben. Das war komisch. Da hat sie ein Blatt mit Käfern nachgezeichnet. Einer war immer durchgestrichen. Daraus sollte sie eine Minus-Rechnung machen, dafür ist eine Zeile darunter freigeblieben. Sie hat es gemacht [siehe Kapitel 2.7.2]. Hat bei Zwei minus Eins begonnen. Dann Drei minus Eins. Dann wieder Zwei minus Eins. Bis Null. Blöd. – Andere haben gesagt, nur bis drei? – Nein! Bis Null! – Aber das hat keine verstanden. Trotzdem ist ihr gesagt worden, sie soll das Übungsblatt ausschneiden und auf ein Farbblatt kleben. Das ist dann in einem Rahmen an die Wand gehängt worden. BRRR! Gut, dass ihr Name nicht draufsteht! Dann hat sie es in eine Klarsichthülle gegeben und in ihrer Mappe aufgehoben. Sie weiß auch noch das Datum dieses Blattes: 29.10.2012. Genug von damals! Das ist fast ein Jahr her [siehe auch Kapitel 2.7.2 und dort Abb. 17 sowie Kapitel 3.10].
Bei dieser langen Erzählsequenz handelt es sich also um eine (erfundene) späte Reflexion zu Blatt 29.10.2012 (Übung: 2–1 =). Nun, ein Jahr später, im ‚Flow‘ könnte es leichter gefallen sein, das anzusprechen, was damals vermutlich zu Missverständnissen geführt hat. Das betrifft zum einen eine Eigenwilligkeit Ernas, die sich anscheinend eigenständig für Minus-Rechnungen bis Null interessiert hatte. Anscheinend haben andere das Rechnen mit höheren Zahlen bevorzugt, und vielleicht sogar Ernas Minus-Rechnungen geringschätzend kommentiert. Außerdem hat es den Anschein, dass Erna sich zur Behandlung dieses Blattes (Aufkleben auf ein rotes Blatt) als Reflexionsblatt gedrängt sah. Maria T. erinnert sich im Zuge der Präsentation von Ernas Mappe und Ernas Reflexionsblättern mit den Worten: „da hatten wir Kinder, die konnten schon im Zahlenraum 100 ahh rechnen und sie hat im Grunde die Zahl Zwei, Drei – mit Minus, Plus gerade geschafft“ (Clip3, Audio-Transkript, Abs. 12).
So ein Vergleich mit ‚Besseren‘ behagt den betroffenen ‚Schwächeren‘ meist nicht, eher beschämt er sie. Im Übrigen ist mathematisch betrachtet das Rechnen Richtung Null eine anspruchsvolle Operation. Hinzu kam damals ein eigenartiges Durchstreichen von Insekten. Aber Reflexionen sind genau dafür gut, alte Probleme nach Möglichkeit wieder los zu werden. Und in einem Flow kann das vielleicht besonders gut gelingen, ein ‚blödes‘ Problem wieder aufzugreifen, zumal ja Erna von einer Angst vor Rechnen geplagt wurde, zu jener Zeit.
Sequenzen 14 bis 19: Zügige Gestaltung des neuen Blattes
Nun werden die ersten Aktionen im neuen Blatt, wie sie im ausführlichen Gedankenexperiment sequenziell – aus der Perspektive von Erna 2 erzählt werden, angeführt:
(14) Heute steht ganz oben an der Tafel – wie jeden Tag – das aktuelle Datum: 18.10.2013. Das schreibt sie auf das himmelblaue, zartblaue Blatt auch ganz weit oben. Naja: 8 in 18 ist zwar ihre besondere Zahl, die ist diesmal nicht gut gelungen. Aber am Rand radieren? Das mögen Blätter nicht. Ihre „8“ bleibt so, wie sie ist.
(15) Und jetzt, links oben, nicht gar so nah am Rand, die schöne Überschrift, die sieht sie auf einem großen Streifen an der Seitenwand, wo schon einige Bilder zu dieser Überschrift in Holz-Wechsel-Rahmen hängen: „Land Des Rechnens“. Das hat sie mit ihrem grauen Stift, dem mit Reibungshitze-Radierer, geschrieben.
(16) Sie wählt nun einen grünen Farbstift. Auf das zartblaue Blatt schreibt Erna zunächst Zahlen: Links 5, rechts 16, weiter unten 71, dann links oben 60, in der Mitte 10.
(17) Dann wechselt Erna den Farbstift. Von Grün zu Türkis: links oben 90, weiter rechts 99, unten in der Mitte 13. Obwohl Erna fest draufdrückt, diese Farbe sieht man nicht gut.
(18) Dann hat Erna zu zeichnen begonnen, unten in der Mitte. Sie hat sich mit ihrem grauen Stift so gezeichnet, dass sie sich auch noch anmalen kann. Das kann sie gut [siehe Abb. 24].
(19) Sie hat sich in ihr gerade entstehendes Land des Rechnens zunächst mit dem grauem Stift in Umrissen gezeichnet. Auch eine Sprechblase gehört zu ihr. Sie bleibt noch leer, sie zeichnet lieber zuerst.
Diese (re‑)konstruierende Neuerzählung erweckt den Eindruck, dass Erna 2 flott und spielerisch vorgegangen und vorangekommen ist. Ein Blick auf das Blatt bestätigt, dass mit den genannten Aktionen, die Gestaltung des Blattes schon einigermaßen fortgeschritten ist. Dazu beigetragen dürfte die Überschrift haben. Sie kann als sehr offener Auftrag, verstanden werden, den eigenen Fortschritt in Rechnen zur Darstellung zu bringen. Die Überschrift im Bild wird weiter unten einer Feinanalyse, also Wort für Wort, unterzogen, dabei wird noch deutlicher als in den Nebenbemerkungen von Erna 2, dass es sich um eine dynamisch generative Bedeutungsstruktur handelt, die wesentlich zum Gelingen der Reflexion der siebenjährigen Erna beiträgt (siehe Kapitel 4.11).
Sequenzen 20 bis 28: Eigene Ausbesserungen als Ausdruck dialogischer Reflexivität
In den nächsten Erzählsequenzen zur (Re-)Konstruktion der Gestaltung des Reflexionsblattes können Korrekturen als Ausdruck von dialogischer Reflexivität herausgearbeitet werden. Es werden wieder mehrere Sequenzen gezeigt, daran sollte man die unterschiedlichen (verinnerlichten) Dialogpartner*innen besser erkennen können:
(20) Beim Rock, den sie später blau anmalt, musste sie ausbessern. An der Stelle kann man schon radieren. Genauer gesagt: Reiben. Gut, dass sie den Reibungshitze-Radierer auf diesem Stift dabei hat. (Da radiert man ohne die üblichen Fusseln). Sonst wär sie zu dick geworden, sie ist aber sehr schlank.
(21) Dann hat sie die Haare strahlend in Gelb gemalt – manchmal, wenn die Sonne scheint, sagt Papa zu ihr: Jetzt strahlen deine Haare nach Sonne. Die Haare sind hier länger und heller als sie wirklich sind.
(22) Damit die Haare genug Platz bekommen, hat sie links an der Sprechblase ein wenig radiert, da sind die leuchtend gelben Haare schon wichtiger, da darf kein Strich durchgehen.
(23) Als sie dann ihren Satz zu Rechnen hineinschreibt, ist die Sprechblase zu klein.
(24) Rechts an der Sprechblase radiert sie nun auch. Radieren kommt sonst selten vor. Aber ihr Satz braucht mehr Platz. So wird es eine Blase mit Beule. Auch gut. Wolken haben oft Beulen, die sich sogar quellend verändern.
(25) Ihr Satz hat nun Platz: „Ich liebe Rechnen“.
(26) Liebe kann man groß oder klein schreiben. Beides ist toll.
(27) Drunter ein Herz. Klein – aber deutlich.
(28) Jetzt malt sie den Rock blau an. Passt gut zum Gelb.
Die Ausbesserung in Sequenz (20): „beim Rock […] sonst wär sie zu dick geworden“, dürfte auf von Erna ernst genommene Gespräche und Rückmeldungen zurückgehen, wonach sie „sehr schlank“ sei. Diese Außensicht dürfte auch zu ihrem inneren Bild von sich geworden sein, das wiederum für ihre Einschätzung (im Dialog mit sich) maßgeblich sein dürfte. Sie zeichnet ja (dem Exkurs 1 folgend) eine innere – daher authentische – Vorstellung von sich (siehe Kapitel 1.11, insbesondere 1.11.3). Die Erwägungen, ob Ausbessern an dieser Stelle ohne Schaden am Blatt möglich ist, dürften auf eigene Erfahrungen und Gespräche mit Mitschüler*innen zurückgehen. Eine besondere Radiervorrichtung findet in diesem Alter vermutlich viel Beachtung. An den kleinen Korrekturen werden also sowohl innere wie auch (davorliegende) äußere Dialoge erkennbar. Reflexivität wird also auf Dialogizität bzw. verinnerlichte Dialoge zurückgeführt. Die Ausbesserung am Rock ist in Abbildung 24 gut zu erkennen (siehe Kapitel 4.8).
In Sequenz (21) denkt Erna an Worte ihres Papas: „Jetzt strahlen deine Haare nach Sonne“, und malt ihre Haare strahlend gelb. Dann kommentiert sie gedanklich: „Die Haare sind hier länger und heller als sie wirklich sind“. In Sequenz (22) wäre die Darstellung der Haare beinahe durch die Striche der Sprechblase gestört worden, aber das konnte Erna mit Hilfe ihres Radierers sehr schön lösen (siehe abermals Abbildung 24).
In den Sequenzen (23) und (24) geht es um die Sprechblase und deren Ausbesserung, die deutlich als Ausbuchtung zu erkennen ist. Mehr noch: Anscheinend versuchte Erna „ihren Satz“ zunächst bei der letzten Silbe kleiner zu schreiben, wie man beim „e“ noch ahnen kann. Aber für das „n“ ganz hinten war dann zuerst gar kein Platz mehr (siehe nochmals Abbildung 24). Erst dann dürfte Erna die Vergrößerung der Sprechblase vorgenommen haben. Erna begleitet ihre Zeichentätigkeit gedanklich mit den Worten: „So wird es eine Blase mit Beule. Auch gut. Wolken haben oft Beulen, die sich sogar quellend verändern“. Der Vergleich mit der Form einer quellenden Wolke passt zum Himmelblau des Blattes. Rekonstruktionslogisch ist an dieser Stelle der Blattgestaltung der Umstand wichtig, dass Sinn letztlich sprachlich erzeugt und kritisiert oder reflektiert wird (siehe Oevermann 2014, S. 49 zitiert in Kapitel 4.10.1.1 oder Exkurs 2 in Kapitel 2.3.6).
In den Sequenzen (25) und (26) geht es um den Satz in der Sprechblase. Er ist nicht einfach zu zitieren. Denn die handschriftliche Aussage enthält einen doppeldeutigen Buchstaben, wodurch offen bleibt, ob „liebe / Liebe“ groß oder klein geschrieben steht. In der (re‑)konstruierenden Neuerzählung heißt es folglich: „Liebe kann man groß oder klein schreiben. Beides ist toll“. In diesen Worten wird eine mögliche gedankliche Abwägung der Verfasserin der im Blatt zentralen Aussage ausgedrückt. Bemerkenswert ist, dass gerade in diesem Blatt, in dem zweifellos etliche Ausbesserungen dokumentiert sind, an dieser Stelle die Doppeldeutigkeit der Schreibung dieses Wortes belassen ist. Daraus kann man schließen, Erna ist sich sprachreflexiv der Vieldeutigkeit der Worte ‚Liebe / liebe‘ einigermaßen bewusst. In diesem Zusammenhang ist der Grundsatz der Objektiven Hermeneutik wichtig, bei Rekonstruktionen nichts leichtfertig dem Zufall zuzuschreiben, sondern die Fakten des Datenmaterials hinsichtlich ihrer latent und objektiv wirkenden Regeln zu ergründen (Oevermann 2013, S. 74-98). Anscheinend ist die gleichzeitige Groß- und Kleinschreibung von „Liebe / liebe“eine jener deutlichen Mehrdeutigkeiten, die ausdrücklich zur Fallstruktur der bisher untersuchten Blätter zu rechnen ist (siehe auch das Kapitel 4.7: Ein ‚X‘ – das erst zu bestimmen ist). Insofern eine deutliche Mehrdeutigkeit zunächst intuitiv registriert wird, wurde sie bislang in dieser Studie wiederholt als (empfundene) Suggestion bezeichnet (Kapitel 4.9 sowie insbesondere 4.5 und 2.4.4). Solche Wiederholungen von Erkenntnissen deuten darauf hin, dass die Studie einem Sättigungsgrad erreicht, also zu abschließenden Ergebnissen gelangt, obwohl man auch tiefgehender und noch differenzierender weiterforschen kann. Die erzählend (re‑)konstruierte Lebenspraxis (Ernas) hält sich bei der ihr eher zu kompliziert erscheinenden Frage der Groß- oder Kleinschreibung nicht auf, zeichnet noch ein kleines Herz in die Sprechblase (Erzählsequenz 27).
Dann greift sie zu einem der Farbstifte, nämlich Blau (Erzählsequenz 28). Das Blau des Rocks passe gut zum Gelb der Haare. Die Farben und der häufige Farbwechsel ergeben bereits einen dynamischen, bunten Eindruck des Blattes, auf dem die einzelnen, in Summe bunten, Einträge deutlich zu unterscheiden sind und auch für sich stehen auf dem dominanten Hellblau des Blattes.
Sequenzen 29 bis 37: Die Rechnungen – Regeln richtig angewandt
In den folgenden Erzählsequenzen (29) bis (41) wird das Blatt weiter mit bunten Ziffern und Zahlen befüllt und gestaltet. Zunächst wird ihre besondere Schreibweise der Ziffer „8“ kommentiert: „drei so-herum und anders-rum, das macht nur sie so“ (Sequenz 31). Dann leitet der Gedanke: „Ins ‚Land Des Rechnens‘ gehören neben Zahlen auch Rechnungen“, hin zur ersten Rechnung im Blatt: „7 + 3 = “ (Sequenz 32).
(29) Blaue Zahlen fehlen noch: 9 und dann 17 ziemlich weit oben.
(30) Dann platziert sie 11 neben sich und unter die Sprechblase.
(31) Jetzt 18 links außen, 8 setzt sie wieder zusammen, diesmal ist ihr das gut gelungen: drei so-herum und anders-rum, das macht nur sie so. Man sollte es aber nicht sehen und auch nicht an die Ziffern 3 denken, sondern nur an 8 [siehe Abb. 24, links außen].
(32) Ins ‚Land Des Rechnens‘ gehören neben Zahlen auch Rechnungen. Also schreibt sie: 7 + 3 = . Sie wüsste natürlich noch mehr solcher Angaben, aber bei dieser kommt etwas Besonderes raus.
(33) Für das Ergebnis dieser Rechnung verwendet sie wieder den besonderen grauen Stift. Manche glauben, das sei ein Bleistift-Strich. Aber genauer betrachtet ist das ein grauer Tintenroller. Zu (blau) 7 + 3 = schreibt sie in Grau: 10 [siehe Abb. 22 in Kapitel 3.11].
(34) Etwas weiter oben schreibt sie mit dem grauen Stift weiter: 5 + 5 = .
(35) Das (besondere) Ergebnis schreibt sie in Orange: 10.
(36) Naja. Orange wirkt hier wie Hellbraun. Das passt als Farbe für das Gesicht und die Beine. Sie malt beide an [siehe wieder Abb. 24, hier etwas weiter oben].
(37) Erna bleibt bei dieser Farbe, und unter blau 11 schreibt sie 1000 in Orange-Hellbraun. Eintausend, wenn man es ausspricht.
(38) Links neben ihre gezeichnete Gestalt kommt in dieser Farbe (Orange-Hellbraun) wieder eine Rechnung: 50 – 3 = .
(39) Das Ergebnis schreibt sie in Türkis: 47. Das hat gerade noch Platz.
(40) Sie wechselt zu Grün und schreibt links, denn da ist noch viel Platz: 6 + 6 = . [Das ist wieder nur in den Abbildungen des gesamten Blattes zu sehen, nämlich in Abb. 22 in Ka-pitel 3.11 oder im Bildanhang, dort Abb. 37.]
(41) Das Ergebnis ist 12. Dafür nimmt sie wieder Orange-Hellbraun. Das ist eine wichtige Zehnerüberschreitung. Die Angaben sind einstellig, das Ergebnis ist zweistellig.
Das Ergebnis der summierten Einer „7 + 3 = “ stellt durch die zweistellige Zahl „10“ eine „Zehnerüberschreitung“ dar (siehe auch Sequenz 41). Durch diese und weitere Rechnungen sind wichtige Regeln, die im ‚Land Des Rechnens‘ gelten, zur Anwendung und Darstellung gebracht. Dabei hat die Verfasserin darauf geachtet, dass die Regeln auch richtig ausgewählt und angewandt werden, dass die Rechnungen also stimmen. (Beim Satz in der Sprechblase hat sie das offen gelassen, was auch mit der Komplexität der betreffenden Regel zusammenhängen dürfte, und vor allem, weil im Blatt nur Rechnen das ausgewiesene Thema der Reflexion ist.) Zwischendurch malt Erna die Gestalt mit der Sprechblase weiter an (Sequenz 36). Sie ist es, die rechnet, malt und schreibt (und reflektiert) inmitten der Zahlen und Rechnungen in ihrem ‚Land Des Rechnens‘, das sie mit „18.10.2013“ datiert.
Sequenz 42: „Der Zauber ist in dir“, darauf vertraut Erna schon lange
Nach den Gedanken zur Zehnerüberschreitung in den Erzählsequenzen 32 bis 41 beginnt die Verfasserin des Blattes, die auch die Proponentin des im Blatt dargestellten Geschehens ist, zu ahnen, was in der ‚schönen‘ Überschrift des hellblauen Blattes verborgen ist, nämlich ein Hinweis auf eine großartige Gabe in ihr. Diese Gabe wird nicht nur in der Schule ‚Kompetenz‘ genannt. Man kann sie auf ganz verschiedene Weise erwecken oder erkennen. Die Fee sagt in einem ihrer Lieblingsmärchen: „Der Zauber ist in dir“ (Sequenz 42). Daran glaubt Erna ganz fest – schon lange vor der Schulzeit.
Sequenz 48: Eine Episode (Lesart), die Grenzen und Regeln in Frage stellt
Auch ihrem Papa gelingt es (gemäß dieser Episode in der Neuerzählung dieses Blattes), geheimnisvolle Kräfte in Erna zu wecken. So wie die Fee steht ihr Papa für die soziale, letztlich dialogische Einbettung unserer Sozialisation, aus der wir grundlegende Kompetenzen und Zuversicht für die Bewährung an neuen Herausforderungen beziehen (siehe Kapitel 2.5, Exkurs 3).
(48) Mit Papa ist das Rechnen locker. Wenn er sich zu ihr setzt – gar so oft hat er ja nicht Zeit – da spürt sie, wie Rechnen locker wird. Papa hätte vorhin beim ‚Verschreiber‘, als sie 50 = geschrieben hat, nicht radiert. Sondern Papa hätte – Erna denkt nach – ja! Papa hätte 50 = 50 geschrieben. Oder: 50 = 40 + 10 geschrieben, also das Ergebnis vorangestellt. Aber geht das bei Frau Brauer, ihrer Lehrerin? Die wirkt auch ziemlich streng. Und manchmal weiß Erna nicht, ob sie selbst, wie beim Radieren, oder ob ihre Lehrerin unsicher ist. Komisch. Und wenn sie jetzt die fertig angemalte Erna 2 ansieht, dann merkt man das Lockere von Papa vor allem in ihren Haaren und den bunten Farben. Aber auch das Unsichere, das es Frau Brauer recht machen soll, ist da. Erna weiß nicht genau, woran man das Unsichere sieht. Aber es ist auch da in der gezeichneten Erna 2. Erna wird Papa fragen, ob er 50 = 50 geschrieben hätte. Und jetzt macht sie das Blatt fertig. Vielleicht sagt Frau Brauer dann: Schön, da kannst du stolz sein! – Aber: ‚Stolz‘ ist etwas anderes als ‚schön‘. (Ob das Frau Brauer auch so sieht?) Und was sie geschrieben hat, ist noch einmal was ganz anderes: „Ich Liebe Rechnen“. Toll.
Diese Episode (Sequenz 48) innerhalb der Neuerzählung geht ziemlich phantasievoll an die methodisch gesetzte Grenze von Lesarten. Somit ist zunächst die Frage zu klären, ob und inwiefern diese Episode durch die Fakten des Datenmaterials überhaupt gerechtfertigt ist. Für diese Überprüfung werden die drei methodischen Prinzipien (Totalität, Wörtlichkeit und Sparsamkeit) der Objektiven Hermeneutik in Erinnerung gerufen und angewandt (Oevermann 2013, S. 78f.):
Das „Totalitätsprinzip“ „schreibt als Ideal vor, bei einem gegebenen Datum bzw. einer gegebenen Ausdrucksgestalt lückenlos die Sequentialität zu rekonstruieren, also nichts Erschließbares auszulassen“. Daher ist es methodisch erforderlich, auch Ausbesserungen entsprechend zu deuten.
Das „Wörtlichkeitsprinzip“ verlangt, dass „Lesarten bzw. Interpretationsketten […] im zu analysierenden Protokoll nachweisbar markiert sind und sich zwingend daraus ableiten lassen, so dass für sie das Kriterium erfüllt ist, dass sie entweder nicht der Fall sein können oder – noch viel besser – der Fall sein müssen“. In dieser Episode bzw. Lesart kommen sowohl Passagen vor, die widerlegt werden (Erna ist nicht so sicher wie Papa im Umgang mit Gleichungen, daher vermeidet sie Ungewohntes), aber auch welche, die zutreffend, nämlich sehr persönlich, aufgegriffen werden (wie der Satz: Ich Liebe Rechnen).
Das „Sparsamkeitsprinzip“ verlangt, „die Grundannahme von Vernünftigkeit, Rationalität und Normalität [möglichst lange] aufrechtzuerhalten“ (Oevermann 2013, S. 78f.). Obwohl an dieser Episode einiges gewagt ist, etwa, dass auch Ernas Lehrerin unsicher sei. Aber innerhalb der Grundannahme der Vernünftigkeit ist diese Lesart sehr wohl gerechtfertigt.
Die Argumentation, inwiefern diese Episode (Erzählsequenz 48) inhaltlich aussagekräftig ist, lautet nun folgendermaßen:
Lockerheit ist beim Rechnen wichtig, weil erst ab einer gewissen Geläufigkeit die Möglichkeiten von Rechenoperationen erkannt und praktisch zugänglich werden. Im Blatt sind Möglichkeiten durch kleine und große Zahlen (bis 1000), einfache und komplexere Plus- und Minus-Rechnungen repräsentiert. Lockerheit beim Verfassen des Blattes ist auch durch den spielerisch häufigen Wechsel der Farbstifte zu erkennen. Dass für die unterschiedlichen Seiten der Gleichungen unterschiedliche Farben verwendet werden, weist überdies auf ein Verstehen des Unterschieds zwischen einer Rechenoperation (Plus- und Minusrechnen) und ihrem Ergebnis hin.
Sequenzen 43 bis 47: Rückblenden zu Spuren innerer Dialoge – Regelbewusstheit
Die erörterten (rechnerischen) Ausbesserungen im Blatt stehen für Regelbewusstheit und Vorsicht, vermutlich zur Fehlervermeidung. Denn durch die Vermeidung der Schreibweise des „=“ an ungewohnter Stelle der Rechnung „50 + 2 = 52“ sowie durch die Vermeidung der etwas komplexeren Zahl „330“ statt „300“ in der Angabe „300 + 300“ konnte augenscheinlich sichergestellt werden, dass keine Fehler passierten. Deswegen dürfte Erna (vorsichtshalber) radiert und ausgebessert haben.
Den flotten Lauf der Praxis nachempfindend, finden sich in der Neuerzählung der Blattentstehung folgende Sequenzen, die hier als Rückblende nachgeholt werden. Denkprozesse enthalten Vor- und Rückblenden, das gilt für Reflexionen in besonderem Maß:
(43) Dann wieder in Grün: 50 + 2 = . Da musste sie beim Plus radieren. Das ist bei Farbstiften nicht einfach (und fusselt).
(44) Stiftwechsel zu Grau: 52. Das wirkt blass. Stiftwechsel.
(45) Wieder in Grün: 300 + 300 = . Beim zweiten 300 hat sie wieder radiert. So ist es einfacher. Es wird schon anstrengend. Zeit fertig zu machen. Eine Rechnung mit zwei großen Zahlen wollte Erna 2 aber schon dabei haben.
(46) Für das Ergebnis wechselt sie wieder zu Orange-Hellbraun: 600. Das hat sie eilig hingeschrieben, wie man an den schwungvollen Ziffern sieht.
(47) Es ist noch einiges zu tun. Erna malt den Oberkörper, naja das Leiberl, rosa an, und dann noch die Schuhe. Sie sieht Erna 2 an: Am besten sind ihre Haare gelungen, da hat sie an Papa gedacht, der bewundert ihr ‚sonniges‘ Haar.
Sequenzen 49 bis 52: Schluss der Blattgestaltung und der inneren Dialoge
Die Erzählungen zu Ernas inneren Dialogen sind in einem besonderen Maß konstruiert oder spekulativ. Innere Dialoge werden hier verstanden als Gedanken, in denen auch Positionen von Dialogpartner*innen mitwirken.
(49) Rechts oben ist noch einiger Platz frei. Sie beginnt in der Mitte mit 6, dann weiter mit 20, und auch noch 70.
(50) Ein Platz für eine Rechnung ist auch noch frei: 12 + 2 = .
(51) Noch ein Stiftwechsel: 14.
(52) Fertig? – Der Blick der Verfasserin dieses Blattes 18.10.2013 (‚Land Des Rechnens‘), Erna 2, gleitet noch einmal prüfend über ihr Werk. – Fertig! [Anmerkung des Forschers: Nur in diesem Blatt trägt das Pseudonym „Erna“ meist die Zusatzbezeichnung „2“; dies stellt einen Zusammenhang zum ‚frühen‘ Blatt 29.10.2012 (Übung 2–1=) her, das Erna aber nicht mit ihrem Namen signiert hat.]
Im Datenmaterial sind nur wenige Gedanken von Ernas inneren Dialogen manifest geworden. Vielleicht ist das ein Grund für die mehrfach empfundene und auch angesprochene Rätselhaftigkeit. Denn manifestiert sieht man im Blatt nur die vollzogenen Handlungen, aber nicht die zugehörigen Begründungen, Erwägungen, also die Gedanken. – Es sei denn, sie sindverschriftlicht (wie in der Sprechblase oder als Ergebnis von Rechenaufgaben) oder in anderer Weise explizit ausgeführt,wie das Herzsymbol in der Sprechblase (siehe EXKURS 4: Die Kraft der Schriftsprache im Erkenntnisprozess) bzw. Kapitel 5.1).
(Weiter zu: Selbstbewusste Reflexion als offener ‚Auftrag‘ an dieser Schule)