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Benennung der Darstellungselemente

(Davor: Die initiale pädagogische Präsentation von Ernas Mappe)


…von BLATT 24.09[.2012]: Familie

Die Sinn- bzw. Darstellungselemente des Datenblattes, werden nun benannt, sodass in der weiteren Auseinandersetzung mit dem Blatt darauf Bezug genommen werden kann:

  1. Auf einem blassgrünen rechteckigen Zeichenblatt, es liegt quer undhat ungefähr das Format DIN A4, ist mit Filzstiften eine Zeichnung aufgebracht.
  2. Es kann von einem Bild gesprochen werden, denn die begrenzenden Ränder des farbigen Blattes bewirken den Effekt eines Bilderrahmens:Das blassgrüne Blatt mit allem darauf Dargestellten hebt sich von der Umgebung ab, wird automatisch zum Bild. Es greift also das Prinzip, der Rahmen macht ein Bild zum Bild. In der zum Bild gerahmten Fläche unterliegen in der Folge alle Darstellungselemente der Polarität von Mitte und Peripherie. Jedenfalls macht sich die Methodik der sequenzanalytischen Rekonstruktion dieses konstitutionstheoretische Prinzip bei der Erschließung der Komposition eines Bildes zunutze (siehe Kapitel 2.3.6: EXKURS 2: Bildhermeneutik). Dieses Prinzip wird auch im Zuge der Benennung der Darstellungselemente beachtet.
  3. Grüne Striche sind in wilden Bögen in der unteren Bildhälfte bis über die Bildmitte hinaus aufgehäuft. Ihre Bedeutung bleibt allerdings ziemlich abstrakt oder nicht zu einer allgemein verständlichen Form geführt. Die Striche scheinen energisch und schwungvoll, fast hastig zu Papier gebracht. In Relation zu anderen Bildelementen, wie Wolken, Sonne, Haus, Gitter sowie Weg und der auf diesem gehenden oder posierenden Gruppe von vier Personen, könnte man die grünen Striche als Teil einer Landschaft, wie Hügel, Wiese oder auch Teich identifizieren.
  4. Ein Gitter oder eine Struktur oder ein Zaun ist mit wenigen dünnen, schwarzbraunen Strichen in den oberen Teil der grünen Striche gesetzt. Das Gitter könnte auch Teil des Hauses sein, oder aber ein Baugerüst vor dem Haus.
  5. Ein hohes Haus, es könnten auch zwei sein, ist wie das Gitter in die grünen Striche – aus diesen herausragend – gesetzt. Es erhebt sich hoch aus den grünen Strichen, neigt sich nach rechts, wie auch das rote Dach. Es hat große und kleine, blau bemalte (vielleicht das Blau des Himmels spiegelnde) Fenster, die sich auffällig nach links neigen, als ob sie zur Vier-Personen-Gruppe schauten. Ein quer liegendes langes Viereck unterhalb der Fenster könnte zum Haus, oder aber zum Gitter davor gehören.
  6. Der Himmel ist über und vor allem links neben dem Haus durch blaue Wolken in schwungvollen, zusammenhängenden blauen Strichen ausgeführt. Das mächtige Haus lässt dem Himmel aber wenig Platz.
  7. Links neben dem Haus und dem Gitter oder Zaun geht eine vierköpfige Personengruppe, vielleicht eine Familie mit zwei Kindern, vermutlich Mädchen. Diese Gruppe ist detailreicher und bunter ausgeführt als die übrigen Bildelemente. Dadurch lädt sie zu besonderer und zu genauerer Betrachtung ein, zumal sie zum oder zur Bildbetrachter*in lächelnd zu blicken und zu winken scheint.
  8. Die Personengruppe geht auf und neben einem Weg, der in feinen, dichten, schwungvollen, gelben Strichen ausgeführt ist. Dieser Weg scheint sich links an die großen, geschwungenen, grünen Linien anzuschmiegen. Gleichzeitig wirkt der Weg wie ein Podest oder auch wie eine gelbe Wolke, auf der die Gruppe schwebt. 
  9. Über der Gruppe unter dem Himmel bzw. der blauen Wolke scheint eine gelbe Sonne mit sechs gelben Strahlen. Sie scheint klein – und doch wichtig zu sein. Ihre Farbe findet sich im Haar der Frau vorne links und des größeren der zwei kleinen Mädchen wieder. Auch der Weg trägt die Farbe der Sonne und der Haare, wenn auch nicht so klar und strahlend.
  10. Neben der Sonne links ist ein Datum, 24.09, vermerkt. Dieses Datum ergibt, erweitert um die Jahreszahl, die Datumskennung des Blattes: 24.09[.2012]. Ganz oben links ist in Blockschrift, schwarzbraun und fett wie das Datum, der Name „ERNA“ geschrieben (der Name wurde von mir durch ein Pseudonym ersetzt).
  11. Es spricht alles dafür, dass es sich um eine Kinderzeichnung handelt: Die Zeichnung erscheint auf den ersten Blick kindlich schematisch, was an den Strichhänden mit jeweils drei Fingern vielleicht am deutlichsten ausgedrückt ist. Die schlichte, minimalistische Bild-‚Sprache‘ zeigt sich auch darin, wie wenig es braucht, um zum Beispiel eine Person zu symbolisieren (siehe das linke Bildsegment, Abb. 12, Kapitel 2.4.4).

Nachbetrachtung der Benennung der Bildelemente

Mit der Benennung der Darstellungselemente des Bildes habe ich als Forscher zwar ursprünglich bezweckt, (lediglich) eine sprachliche Grundlage für die weitergehende Bildanalyse zu schaffen, damit man sich im Bild leichter orientieren und zu einem bestimmten Bereich gleichsam ‚hinfinden’ kann. Aber, obwohl ich mich bemüht habe, die Darstellungselemente bloß beschreibend zu benennen und noch nicht zu interpretieren, erschien es mir unvermeidlich, kompositorische Sinnbezüge mit aufzunehmen (z.B. die Personengruppe auf dem Weg gehend); anders – so mein Eindruck – wäre ich nicht zu halbwegs eindeutigen Formulierungen von sinntragenden Elementen des Bildes gelangt. Auch der Suggestion der schematisch-schlichten Elemente mit ihren Subelementen konnte (und wollte) ich mich nicht ganz entziehen, indem ich zum Beispiel anmerkte, die Personengruppe könnte eine Familie sein. Auch dass es sich um Personen handelt – und nicht etwa um Puppen – ist bereits eine Interpretation.

Allerdings sollen solche ersten Bezeichnungen später noch hinterfragt werden, auch daher habe ich viele Mehrdeutigkeiten vermerkt. Diese Mehrdeutigkeiten könnten auch ein allgemeines Spezifikum von Kinderzeichnungen darstellen.

Das Phänomen, dass in die Benennung von Darstellungselementen bereits Relationen zwischen den Sinnelementen, also Interpretationen eingehen, soll von Anfang an beachtet werden. Anscheinend kommt dabei eine Fülle von geläufigem aber auch intuitivem Vorwissen zum Tragen, zum Beispiel wie ein Weg oder ein Haus häufig symbolisiert wird. Auch selbstverständliche Vorerfahrungen des Interpretierens dürften mitwirken; zum Beispiel, dass vieles aus Relationen (zwischen Bedeutungselementen) herausgelesen werden kann, und dass Bedeutungen mit wechselndem Kontext Nuancierungen erfahren. So kann ein Gitter als (zeitweiliges) Baugerüst gedeutet werden, oder doch als (dauerhaft) zum Haus gehörende Struktur, oder auch als Pflanzengerüst und Teil des Gartens.

Sinnliche Bildrezeption – Symbolische (abstrakte) Bezeichnung

Vielleicht muss man den Benennungsvorgang bereits auch als Leseprozess verstehen, bei dem Symbole, die auch in Relation zu anderen Symbolen stehen, deutend aufgelesen werden. Das würde die abstrakte Seite der Bildrezeption betonen und die Bezeichnung Lesen rechtfertigen.

Bilder wirken zunächst unmittelbar sinnlich. Bezeichnungen (Prädizierungen) wie spitz oder stumpf, hart oder weich, die ertastet werden können, ‚sprechen‘ dafür. Diese Unmittelbarkeit gilt auch für andere Sinne, etwa den Sehsinn: Beginnend mit hell oder dunkel, und weiter zur Palette der Farben mit ihren Nuancen und Schattierungen.

Schematische Züge der vorliegenden Zeichnung eines Kindes in jener Altersphase, in der das Abstraktionsvermögen noch bescheiden sein dürfte und der Eintritt in die Kultur der Schriftsprache erst begonnen hat, regen diese Erwägungen zum Lesen abstrakter Elemente einerseits, und zur unmittelbaren Rezeption sinnlicher Darstellungselemente andererseits in der vorliegenden Zeichnung eines Kindes an:

Das gilt etwa für den so genannten Weg, der zunächst aus dem Nebeneinander gelber Striche besteht. Aber dadurch, dass die vier Personen der Gruppe darauf zu gehen scheinen, wird nahegelegt, dass es sich um einen Weg handelt.

Auch dass die Gruppe geht, ist bereits eine Interpretation, denn man kann auch sagen, die Gruppe sei in einer Pose des Gehens gezeichnet. Man könnte aber auch zum Schluss kommen, diese Pose – obwohl klein und am Bildrand – sei in mehrfacher Hinsicht voller Suggestion, denn nicht nur die Beine würden eine starke Aussage als Gruppe ergeben: alle gehen oder stehen in eine Richtung ausgerichtet. Auch wie die vier Personen zueinander stehen, wirkt suggestiv: zusammengehörig und voller Unterschiede. Auch die Blicke (und Gesten) zu den Bildbetrachter*innen erscheinen vielsagend und suggestiv und von demonstrativ freundlichem Einklang.

Im Folgenden wird der Suggestion im besonders detailliert ausgeführten linken Bildsegment nachgespürt – gefolgt.


(Weiter zu: Der Suggestion und Mehrdeutigkeit einer Pose folgend)