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Diese drei Konstellationen generieren Krisen

(Davor: Eine Bildmontage zur Kontrastierung von ‚Familie‘ in Theorie und Praxis)


Die Krisenkonstellation 1: Ausschließlichkeitsanspruch des Kindes auf jeden der Eltern

Die erste Krisenkonstellation des Kindes besteht demnach darin, dass das Kind sowohl (a) zur Mutter als auch (b) zum Vater in einer Zweierbeziehung (Dyade) steht. Daraus folgt ein Ausschließlichkeitsanspruch der damit kollidiert, dass die Mutter und der Vater zueinander auch in ihrer Dyade als Paar eine Beziehung mit einem Ausschließlichkeitsanspruch leben, die im übrigen schon existierte, bevor das Paar ein Kind bekommen hat. Das Kind lebt und handelt also sowohl in der Dyade mit Mutter als auch mit Vater, und muss dabei eine Konstellation von zwei Ausschließlichkeitsansprüchen „ertragen“. ‚Ertragen‘ deswegen, weil die Konstellation andauert. Diese Sowohl-Als-Auch Strukturkonstellation ist in der rechten Spalte der Abbildung [15] schematisch dargestellt (1).

In der Zeichnung des Kindes (linke Spalte) sind die Strukturkonstellationen nicht in einzelne Zeichnungen zur jeweiligen Konstellation aufgelöst, sondern sie sind gleichsam überlagert dargestellt. Und dabei kann die eine oder andere Konstellation überwiegen, was die Fokussierung auf eine einzelne Konstellation natürlich erschwert. Also wird das Bild im Fokus auf die jeweilige Konstellation betrachtet.

Die Anhaltspunkte für die Konstellation 1 sind recht deutlich, was die Dyade zwischen den Eltern betrifft: Einer der Arme der Frau greift zu Kinn und Hals des Mannes und der Mann greift an die Hüfte der Frau während der andere Arm über den Kopf des Kindes gehalten ist (und auch über ein zweites Kind reicht, das aber nicht in diesem Bildabschnitt gezeigt wird). Das Kind schmiegt sich sehr eng an den Vater und unter seinen schützenden Arm. Die Fußstellung des Kindes weist Richtung Mutter und die Gesichtszüge sind in hoher Entsprechung zur Mutter. Die Krisenkonstellation der kollidierenden Ausschließlichkeitsansprüche auf Mutter und Vater, während diese ja als Paar einen Ausschließlichkeitsanspruch (aufeinander) hegen, könnte in der Körperhaltung des Mädchens ausgedrückt sein, diese wirkt steif und ein wenig widerstrebend, vor allem, wenn man die Beine in ihrer blockierten Haltung betrachtet. 

Krisenkonstellation 2: Ausschließlichkeitsanspruch beider Eltern auf das Kind

In der mittleren Spalte wird theoretisch postuliert, dass jeder der Eltern gleichzeitig einen Ausschließlichkeitsanspruch auf das Kind erhebt, dies ist auch in der Spalte der Strukturkonstellationen (rechts) durch die Pfeile sowohl aus der Richtung der Mutter als auch aus der Richtung des Vaters symbolisiert. Da die Eltern aus einem je eigenen (verinnerlichten) Herkunftsmilieu ihrer jeweiligen Eltern stammen, sind die Ansprüche unweigerlich unterschiedlich, und da sie von klein auf wirken, auch von entsprechend großem Gewicht.

In der Kinderzeichnung (links) besteht, wie bereits erwähnt, eine große Entsprechung von Mutter und Tochter hinsichtlich der Gesichtszüge und der Haare. Auch die Füße ‚folgen‘ jenen der Mutter. Gleichzeitig zeigt sich die Tochter an den Vater eng angeschmiegt.

Der Vater ‚zeigt‘ sowohl durch die Haltung der Arme als auch durch seinen Gesichtsausdruck – der Mund ist der Frau zugewendet, der Blick aber der Tochter –, dass er sowohl der Frau als auch der Tochter in Rot zugetan ist.

Krisenkonstellation 3: Die Sexualität des Elternpaares – Ein Tabu für das Kind

Die originale, also nicht bereits für die Abbildungsmontage (in der mittleren Spalte der Abbildung 15) verdichtete Formulierung Oevermanns zu dieser Krisenkonstellation lautet:

Ego muß es vor allem ertragen, daß die beiden Eltern untereinander als Gatten einen Ausschließlichkeitsanspruch aufeinander erheben, aus dem es scharf ausgeschlossen ist. Die Schwelle zum elterlichen Schlafzimmer markiert diesen Ausschluß (Oevermann 2016, S. 103).

Während die anderen Ausschließlichkeitsansprüche aus dem eigenen Erleben, entweder der Kind-Mutter-Dyade oder der Kind-Vater-Dyade einigermaßen bekannt sind, trifft das auf die sexuelle Seite der Paar-Beziehung zwischen den Eltern nicht zu. Vielmehr ist das Kind aus der sexuellen Praxis zwischen den Eltern (sowie aus sonstigen sexuellen Handlungen mit einem Elternteil durch das Inzesttabu) strikt ausgeschlossen:

Das ist nun aber für die Sozialisation das entscheidend Sinnreiche. Denn dadurch wird das Kind dynamisch in eine Richtung getrieben, möglichst bald selbst dahin zu gelangen, wo das offensichtlich Attraktive, aber für das Kind Unerreichbare einer gelingenden Gattenbeziehung erreichbar wird (ebd. S. 104).

In der Spalte rechts (siehe Abb. 15), in der die theoretischen Postulate schematisch illustriert werden, symbolisiert daher in der Strukturkonstellation (3) nur ein wechselseitiger Pfeil zwischen Mutter und Vater deren Paarbeziehung, aber es geht kein Pfeil zum Kind oder vom Kind zum Paar, womit angezeigt wird, dass das Kind nicht nur von der sexuellen Seite der Beziehung des Elternpaares, sondern auch von jeglicher sexuellen Beziehung zu einem Elter ausgeschlossen ist.

In der Zeichnung des Kindes (links) müsste (idealer Weise) auch diese Konstellation – wenn auch latent, sie kann ja nicht ganz bewusst sein, aber doch deutlich, da sie von besonderer Wichtigkeit theoretisch postuliert wird – zum Ausdruck gebracht sein.

Was zeigt der Bildausschnitt nun also faktisch?

Das Kind hat sich sehr eng verbunden, ja vermischt mit dem Vater dargestellt, während ihr Gesicht dem der Mutter gleicht. Allerdings sind die Arme des Kindes nicht (oder kaum) zu sehen, ein Arm baumelt vielleicht hinter ihren sehr langen Haaren, dort ist von einer Hand ein wenig auf der Höhe der Socken zwischen den Beinen des Vaters zu sehen. Die lange blonde Haarmähne des Mädchens hat ein wenig der Farben von umgebenden Darstellungselementen, vor allem das dunkle Blau der Hosenbeine des Vaters, aber auch das helle Blau seines Pullovers aufgenommen. Das ergibt ein ziemlich dunkles Gelb, das in Braun übergeht. Auch das Rot des Kleides des Mädchens ist mit dem Blau der Hose des Vaters vermischt. Im Übrigen ist nicht ganz klar, ob das Mädchen vor oder hinter dem Vater steht, was den Eindruck der latenten Unklarheit zu dieser Strukturkonstellation unterstreicht und zur Darstellung bringt.


(Weiter zu: RESÜMEE zur Analyse von Blatt 24.09[.2012]: Familie)