(Davor: Drei Methodenschritte strukturieren diese fokussierte Rekonstruktion)
Den methodisch nicht einschlägig vorgebildeten Geschichtenerzähler*innen war es mühelos gelungen, kleine Geschichten zu erzählen.
Die Erklärung für die Leichtigkeit des Deutens im Erzählen von Geschichten dürfte darin bestehen, dass wir alle ganz offensichtlich Szenen wie diese (zwei Kinder mit zwei Erwachsenen) kennen, und zwar in vielen Variationen, und auch aus vielen Perspektiven: Denn wir alle sind in meist kleinen Familien oder familienähnlichen, kleinen Sozialverbänden aufgewachsen oder haben zumindest Vorstellungen davon. Und viele von uns haben dann als Erwachsene Erfahrungen im Umgang mit (ihren) Kindern. Somit hat unsere Erzählphantasie viel erlebten oder imaginierten Stoff zur Verfügung. Nun also die Geschichten:
Die ersten fünf Geschichten wurden auf die eben geschilderte Weise per E-Mail eingeholt, eine sechste Geschichte wurde auf Grund von Anregungen jener Forschungswerkstatt, in der die ersten fünf Geschichten, wie auch die methodische Vorgangsweise thematisiert worden sind, im Nachhinein vom Autor dieser Studie als Kontrastgeschichte hinzugefügt.
Geschichte 1: ‚müde … wollte eigentlich nicht mitkommen‘
Die Familie kehrt von ihrem Spaziergang über die Felder zurück. Die Tochter in Rot wollte eigentlich nicht mitkommen, weil sie recht müde war, jedoch ließ sie sich von den Eltern dazu überreden. Dabei spielte (insgeheim) eine Rolle, dass sie nicht bei der Oma bleiben wollte, mit der sie sich nicht gut verstand. Unter anderen Umständen würde sie den Erwartungen nachgeben und, wie die anderen, der Oma zuwinken. Da sie jedoch mittlerweile sehr erschöpft ist, schert sie sich nicht weiter darum. Außerdem befinde[t] sie sich hinter den anderen und kann so hoffen, dass sie ihre Verweigerung nicht mitbekommen und diese ein Geheimnis zwischen ihr und ihrer Oma bleibt (E-Mail von F. am 19. 9. 2020).
Geschichte 2: Gesten überschwänglicher Freude – aber auch der Zurückhaltung
An einem warmen Sonntag im Spätsommer oder frühen Herbst verlässt die Familie das Haus für einen gemütlichen gemeinsamen Spaziergang. Alle freuen sich über das warme Wetter und den strahlenden Sonnenschein. Sie verleihen ihrer Freude mit überschwänglichen Gesten und strahlenden Mienen Ausdruck. Nur das Mädchen mit dem roten Kleid ist schüchterner und deshalb zurückhaltender mit ihren Gesten und hängt stattdessen glücklich und ein wenig verträumt ihren Gedanken nach, wobei auch sie den Tag genießt (E-Mail von V. am 19. 9. 2020).
Geschichte 3: … beschwingt … mit erhobenen Händen
Die Familie ist sehr beschwingt. Es ist ein wunderbar sonniger Tag und sie albern fröhlich herum. Die Leichtigkeit der Stimmung sieht man an den erhobenen Händen – sie schweben fast.
Die Mutter macht ein paar Tanzschritte, die ältere Tochter nimmt den Vater auf die Schulter und trägt ihn ein Stück. Die jüngere Tochter geht auch beschwingt dahin. Die ältere Tochter hat einen Arm um das Bein ihres Vaters gelegt, um ihn festzuhalten. Die andere Hand legt sie von hinten ihrer kleinen Schwester auf den unteren Rücken – damit hält sie einerseits Kontakt zu ihr, andererseits hat die Geste etwas beschützendes (E-Mail von R. am 19.9. 2020).
Geschichte 4: Ein goldener Käfig bleibt stets ein Käfig
Es ist ein herbstlicher Tag, an dem Familie Müller ihren sonntägigen Ausflug durchführt. Ob der Beweggrund für diesen Spaziergang die Freude oder ein ritueller Habitus ist, kann auf Grund der aussagekräftigen Geste der älteren Tochter – die zur Begrüßung auf das Winken verzichtet – erahnt werden. Es scheint, als würden die vier Personen versuchen das perfekt vorgeschriebene Familienmodell zu verkörpern: Alle Frauen tragen ihr Haar lang und die blonde Haarfarbe dominiert, während der Mann kurze, dunkle Haare hat. Die Mutter und die Töchter verkleiden deren Körper mit einem Kleid – die Mutter trägt ein Schwarzes, wohingegen der Vater seinen Leib mit Hose und kurzärmeligem Oberteil abdeckt. Besonders herausstechend ist, dass jedes Familienglied die Kleidung bis zum Kinnansatz trägt, was bedeutet, dass die Kehle nicht frei liegt. Somit steht die Frage im Raum, was durch das strukturelle Korsett bedeckt oder verdeckt wird: Die individuellen Vorstellungen eines würdevollen und lebenswerten Lebens?
Die Meisten spielen bei dem gesellschaftlichen Schach mit, doch gibt es Personen, die diesem Spiel den Rücken kehren möchten – so wie die ältere Tochter den Eindruck erweckt, aufwachen zu wollen, um sich aus den starren Fesseln zu befreien. Bis zu einem gewissen Grad spielt sie mit, aber wie geschrieben – bis zu einem gewissen Grad – das verrät unbewusst oder vielleicht sogar bewusst ihr Körper, indem sie durch Verzicht des Winkens signalisiert, dass sie resigniert.
Die Familie spaziert einen Weg entlang, der bergab geht und bei zwei Häusern vorbeiführt, anstatt durch eine blumenreiche Landschaft. Mit den Augen der älteren Tochter reichen die zwei Häuser bis in den Himmel hinauf, wobei die Türen zum Eintreten / Austreten fehlen. Nicht nur der Eingang / Ausgang fehlen, sondern auch die klaren Übergänge zwischen Grund und Haus. Das Haus scheint vom Himmel bis zur Erde zu reichen, wobei vor dem Haus ein Zaun aufgestellt wurde. Diese äußere Begrenzung dürfte die innere Abgrenzung der älteren Tochter widerspiegeln, die verrät, dass nicht alles Gold ist, was glänzt (E-Mail von A. am 21.9.2020).
Geschichte 5: Das Mädchen tritt als Individuum hervor – sucht Schutz der Familie
Als Geschichtenerzählerin gehe ich jetzt mal davon aus, dass das Gebäude auf dem Bild die Schule des Mädchens ist. Warum winkt sie nicht, wie der Rest der Familie? Vermutlich denkt sie – „ihr habt gut winken, ich muss ja eh morgen wieder hinein, also brauche ich mich auch nicht groß verabschieden wie die anderen, die ja in den nächsten Tagen nicht wiederkommen. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, was ich von dem ganzen halten soll, und ob mir das gefällt, zeige mich aber mal freundlich.“
Sie zeigt dadurch, dass sie eine andere Beziehung zum Geschehen hat (Schule, LehrerIn, MitschülerInnen oder wem immer da gewinkt wird).
Sie tritt als Individuum hervor, obwohl sie schon noch deutlich den Schutz der Familie sucht oder sogar bevorzugen würde (E-Mail von H. am 22.9.2020).
Geschichte 6: Keine ‚komplette‘ Familie und keine reale Situation im Bild
Vorbemerkung: Es handelt sich um eine Kontrastgeschichte als Gedankenexperiment auf Grund von kritischen Anregungen in einer Forschungswerkstatt. Man könnte diese Geschichte auch als Kokonstruktion des Autors bezeichnen, der eine kritische Anregung bezüglich der häufigen ‚Unvollständigkeit‘ von Familien mit dieser Geschichte aufgreift. Denn es gehe auch darum, „vielfältige, kontrastierende Situationen [zu] erzählen, die konsistent zu einer Äußerung passen“ (Oevermann 1983, S. 236). Neben methodischen Anregungen hat es auch massive Hinweise gegeben, doch nicht nur idealtypische Familiensituationen ausdrücklich in Erwägung zu ziehen. Die folgende Geschichte wurde vom Autor dieser Studie mit der Absicht erstellt, das Spektrum der kontrastierenden Situationen zu erweitern:
Das Mädchen in Rot, das sich anscheinend an den Mann, vermutlich den Vater, anlehnt, geht tatsächlich allein mit diesem. Denn das Mädchen sieht die Mutter, die von Vater geschieden ist, selten, und die kleine Schwester lebt auch nicht bei ihr und Vater. Aber es wär schön, wenn sie alle zusammen wären, gemeinsam lachen und winken würden. Papa mag das gar nicht, wenn sie ihm sowas vorschlägt. Aber als sie in der Schule auf einem färbigen Blatt „Eine Familie im Grünen“ zeichnen durften, haben ihre Hände, die man fast nicht sieht, eine ganze, eine lachende Familie gezeichnet (Ende September 2020, auf Grund verschiedener Anregungen als Kontrastgeschichte konstruiert; R.S.).
(Weiter zu: Methodenschritt 2 und 3: Gemeinsamkeiten der Lesarten und Überprüfung am Bild)