(Hinweis: Aufbau eines Theoriehorizonts in Exkurs 3)
‚Familie‘
In Annäherung an eine Bildmontage, in der ‚Familie‘ aus einer praktischen und einer theoretischen Perspektivität zur Anschauung gelangt, möchte ich aussprechen, weshalb ‚Familie‘ hier häufig in einfachen (halben) Anführungszeichen steht: Durch diese Markierungszeichen soll ‚Familie‘ einerseits in den Fokus gerückt werden und andererseits auf eine distanzierte Betrachtung dieses höchst verbreiteten Begriffs aufmerksam gemacht werden. Die Auswertung der Lesarten zur Vier-Personen-Szene in Blatt 24.09[.2012] hat ja auch ergeben , dass die Interpret*innen ‚Familie‘ sehr unterschiedlich verwendeten, und gleichzeitig faktisch auf eine tieferliegende, latente Struktur von ‚Familie‘ aufbauten (wie sich in der Auswertung der Lesarten nach und nach gezeigt hat), wodurch es zu unterschiedlichen und doch plausiblen Geschichten gekommen ist. (siehe Tabelle 1 bzw. Kapitel 2.4.9)
Bezugnahme auf den Ödipus-Mythos (Exkurs 3)
Auch zur latenten Wirkung der Struktur ‚Familie‘ und zur Bezugnahme auf den Ödipus-Mythos möchte ich noch zwei Hinweise anmerken. Eine ansatzweise Neuerzählung, jedenfalls aber neue Deutung dieses Mythos findet sich im bereits mehrfach zitierten Artikel: Sozialisationsprozesse als Dynamik der Strukturgesetzlichkeit der ödipalen Triade und als Prozess der Erzeugung von Neuem durch Krisenbewältigung. Dabei wird auch auf Freuds Deutung bzw. Freuds Ödipus-Komplex Bezug genommen (siehe Oevermann 2014a, S. 42-54).
Die Spannweite der Verständnisse von ‚Familie‘ wird im Folgenden noch weiter ausgereizt und in Gestalt einer kontrastierenden Bildmontage zur Anschauung gebracht: Links kommt die Perspektive der (hier untersuchten) Lebenspraxis zur Anschauung, ganz rechts das Schema eines theoretischen Modells. In der mittleren Spalte der Abbildung 15 sind aus der Perspektivität des Kindes (K) „drei voneinander unabhängige Krisenkonstellationen“ sprachlich ausgeführt, die das Kind als Teil der „ödipalen Triade“ mit Mutter (M) und Vater (V) „ertragen“ muss.

Erläuterung zur Bildmontage in der Abbildung
Die Spalten in der Mitte und rechts davon beruhen auf den theoretischen und meta-theoretischen Ausführungen Oevermanns, die im Exkurs 3 einigermaßen ausführlich dargelegt sind, demgegenüber zeugt die linke Spalte von der Reflexionspraxis eines Kindes. Es wird also Praxis mit Theorie kontrastiert. Bei der Anfertigung dieser Abbildungsmontage habe ich auf eine möglichst hohe inhaltliche wie auch bildlich-formale Entsprechung der Darstellungen rechts und links geachtet, während in der Mitte eine ‚Brücke‘ gebaut wird:
Links handelt es sich um einen relativ kleinen (gezoomten) Bildausschnitt aus Ernas Blatt 24.09[.2012] zum Thema ‚Ich und meine Familie‘. Die Themenstellung wird also nun im Teil 2 der Rekonstruktion als dem Blatt externe Information (siehe Kapitel 3.6) ausdrücklich einbezogen, nachdem sie im Teil 1 bereits als dem Blatt immanente Bedeutung, jedenfalls, was ‚Familie‘ betrifft, in den Interpretationsgeschichten (Lesarten) aufgetaucht ist (siehe Kapitel 2.4.8). Dass dabei ein Kind die eigene Familie und die eigene Stellung darin thematisiert, ist naheliegend, auch wenn die ‚Ich-Positionalität‘ hauptsächlich im Blatt 01.10.2012 thematisiert wurde, da dort ‚Ich‘ im Blatt geschrieben steht, was in Blatt 24.09[.2012] in schriftlicher Form nicht vorliegt, man also letztlich auf eine Zusatzinformation angewiesen ist, die durch die Präsentation der Kompetenzmappe durch die Schulleiterin Maria T. allgemein und auch konkret zu Blatt 24.09[.2012] gegeben ist (siehe Kapitel 3, insbesondere Kapitel 3.6 und 3.7).
Rechts in der Abbildungsmontage (Abb. 15) handelt es sich um eine schematische Illustration einer der Praxis eines Kindes zugewandten Ableitung aus einer umfangreichen Theorie, nämlich: Drei Strukturkonstellationen der Strukturgesetzlichkeit der ödipalen Triade aus Oevermanns struktur-, sozialisations- und familientheoretischen Forschungen, die im Exkurs 3 (Kapitel 2.5) dargelegt sind.
In der Mitte findet gleichsam ein Schritt eines Forschers aus seiner Theorie heraus statt, indem er theoretisch postuliert, was seine Forschungen zur Strukturgesetzlichkeit von Familie aus der Perspektive eines Kindes praktisch bedeuten würde, nämlich „drei voneinander unabhängige Krisenkonstellationen“.
Zweck und Eigenheiten dieser Kontrastierung
Nach diesen Erläuterungen zum Zustandekommen dieser Abbildungsmontage (Abb. 15) möchte ich nun zur damit bezweckten Kontrastierung der zu untersuchenden Ausdrucksgestalt der Praxis eines Kindes, das im Grunde zum gleichen Thema wie die theoretischen Postulate verfasst ist, übergehen.
Die naheliegende Frage, ob und inwiefern denn so Unterschiedliches wie die Zeichnung eines Kindes und die theoretische Ableitung eines Forschers, der aus der Perspektivität eines Kindes formuliert, miteinander (methodisch begründet) in ein kontrastierendes Verhältnis gesetzt werden können, beantworte ich vorläufig eher allgemein und vorsichtig: Durch die Kontrastierung soll einerseits eine Überordnung der Theorie über die Praxis, und andererseits eine Mystifizierung der Einzigartigkeit des Phänomens vermieden werden. Letzteres, die Einzigartigkeit kommt ohnehin jedem Ereignis auf Grund des einmaligen Zeitpunktes und der sich ändernden Spezifik des Orts des Geschehens bereits zu. Durch diese ungewöhnliche Kontrastierung soll eine genauere Bestimmung des Allgemeinen im Besonderen des Geschehens angestrebt werden. Wie weit und inwiefern diese Kontrastierung gelingt, soll dann in einer Rückschau kritisch eingeschätzt und für den weiteren Forschungsprozess fruchtbar gemacht werden (siehe das Resümee in Kapitel 2.6.3).
Formal fällt auf, dass die schematische Illustration rechts zum theoretischen Postulat in der Mitte gewisse Ähnlichkeiten mit der Kinderzeichnung links aufweist (siehe Abb. 15). Geht man diesem Eindruck auf den Grund, liegt das an der beträchtlichen Entsprechung zwischen den ovalen Kopfformen (links) und den Symbolkreisen für Personen (rechts). Sie ergeben jeweils ein Dreieck. Die abgebildeten Personen (links) ergeben ebenso wie die Personensymbole (rechts) ein schematisch dargestelltes Dreiecksverhältnis:
In der Spalte ‚drei Strukturkonstellationen‘ (rechts) sind Beziehungspfeile in jedes der Dreiecksverhältnisse eingefügt.
In der Zeichnung (links) gibt es viele Hinweise, die einzeln und in Summe die Beziehung der drei schematisch schlicht dargestellten Personen zueinander symbolisieren. Zunächst sei eine gewisse (symbolische) Entsprechung der Beziehungspfeile (in der rechten Spalte) hervorgehoben, sie finden eine (gestische) Entsprechung in jenen Armbewegungen, die zwischen der Frau und dem Mann gezeichnet sind. Man kann demnach sagen: Der greifenden Geste wird durch das Pfeilsymbol entsprochen; oder: die Beziehung, die in der Zeichnung als Greifen ausgedrückt ist, ist sodann durch Pfeile symbolisiert; oder kurz: die Pfeile sind Zeichen für eine Beziehung und worauf diese sich (wechselseitig) richtet.
Im Folgenden werden die drei Struktur- bzw. Krisenkonstellationen der Reihe nach besprochen und die Kontrastierung fortgesetzt. Dabei werden einerseits (in der Mitte und rechts) weitere theoretische Beziehungsaspekte der Triade zur Sprache, und andererseits weitere Ausdrucksgestalten der zeichnenden Reflexionspraxis zur Anschauung und (erzählenden) Besprechung gebracht. Die Latenz der Krisenkonstellationen (in Familien) war schon – mythologisch verbrämt (als Ödipus-Mythos) – den alten Griechen ‚bekannt‘. Siegmund Freud hat diesen Mythos wieder zur „Chiffrierung“ eines „Entwicklungsproblems“ aufgegriffen (Oevermann 2014a, S. 49). Nun werden die drei Krisenkonstellationen, die in der mittleren Spalte von Abbildung 15 ausgewiesen sind, näher ausgeführt:
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