(Davor: Methodenschritt 2 und 3: Gemeinsamkeiten der Lesarten und Überprüfung am Bild)
In einem ersten Schritt sollten Geschichten zum Bild, insbesondere zum Bildausschnitt (Abb. 14: Vier-Personen-Gruppe: Bildsegment aus Blatt 24.09[.2012]) erfunden und aufgeschrieben werden. Diese Geschichten sollten sich „konsistent“ auf die gezoomte Szene bzw. „Äußerung“ im Bild beziehen, aber auch „kontrastierende Situationen erzählen“. Dies ist geschehen, es liegen fünf per E-Mail eingeholte Geschichten vor (siehe oben), ergänzt um eine sogenannte ko-konstruierte Kontrastgeschichte.
Der eher enge, abstrakte schriftliche Erzählimpuls dürfte gegenüber den viel weiteren Anregungen, die durch das Blatt 24.09[.2012] und das gezoomte Bildsegment, also durch die sinnliche Wirkung der Bilder ‚verblasst‘ sein. Die Geschichten sind ‚bunt‘ bzw. vielfältig wie die Bilder, die offensichtlich zum hauptsächlichen Erzählimpuls geworden sind.
Die im zweiten Methodenschritt festgestellte Gemeinsamkeit unter den unterschiedlichen, vielfältigen, gedankenexperimentell in die Geschichten eingearbeiteten Kontexten, ist ‚Familie‘.
Im dritten Schritt wurde darauf geachtet, ob die Geschichten tatsächlich auf das Bild, zu dem Lesarten erfunden werden sollten, bezogen sind. Eine Lesart, die das nicht war, wurde aussortiert, aber in der Kontrastgeschichte insofern aufgegriffen, als die dort geäußerte Kontextannahme, es werde ein Phantasiegebilde gezeichnet, aufgegriffen wird (vgl. Geschichte 6).
Eine verallgemeinerbare Struktur ‚Familie‘
Allerdings ist ‚Familie‘ zunächst ein vielfach schillernder Begriff, wie in der Kontextspalte zu den eingeholten sechs Geschichten durch die Hervorhebung verschiedener Kontextannahmen ersichtlich ist (siehe Tabelle 1). Dieser variierbare Begriff ‚Familie‘ wird in den Geschichten bzw. Lesarten zur Szene der Vier-Personen-Gruppe (siehe Abb. 14, Kapitel 2.4.6) im Rahmen des Bildganzen (Abb. 11, Kapitel 2.4) höchst variantenreich und lebendig gefüllt. Trotz aller Verschiedenheit (der weiteren Kontexte) dieser Familien-Geschichten zeichnet sich unter den verschiedenen Kontextannahmen eine verallgemeinerbare Struktur ab: ‚Familie‘.
Mit der Feststellung der Gemeinsamkeit der Geschichten ist allerdings nur der Anfang gemacht. Die Eigenart, Typik und Wirkweise dieser Struktur, deren Wirkung zwar allseits (wie auch die Geschichten beweisen) geläufig ist, soll noch genauer bestimmt und erklärt werden. Der Anspruch der Objektiven Hermeneutik (der hier gefolgt wird) besteht darin, die objektiven Strukturen vor den subjektiven zu erschließen, und diese nicht nur zu beschreiben, sondern auch in ihrer Wirkweise zu erklären.
Doch bereits aus der bisherigen Rekonstruktion möchte ich einen metaphorischen Platzhalter für die identifizierte bedeutungsstiftende Struktur festhalten: In den gedankenexperimentellen Lesarten zu Blatt 24.09[.2012] sowie zur gezoomten Vier-Personen-Gruppe ist als sinnstiftende Gemeinsamkeit ‚Familie‘ hervorgetreten. Dies legt den (zunächst metaphorisch formulierten) Schluss nahe: Die Struktur von Familie wirkt wie eine Wundertüte, aus der ständig Neues hervorquillt.
Im Zuge dieser Rekonstruktion ist mir zunehmend klar geworden, dass eine grundlegende Auseinandersetzung mit der Struktur der (Wundertüte) Familie weit über das gerade untersuchte Datenmaterial hinausgehen sollte, was in Exkurs 3 dann auch geschehen ist.
Die ‚stille Annahme‘ wird verworfen: Nicht zu winken kann vielerlei Gründe haben
Bevor der vermerkten Notwendigkeit, die Struktur von Familie genauer zu bestimmen, nachgekommen wird, wird die ‚stille Annahme‘ auf Grundlage der Auswertungstabelle der sechs Lesarten zur Vier-Personen-Szene bereits verworfen:
Die ‚stille Annahme‘ zu Abbildung 14 (Vier-Personen-Gruppe) lautete: So, indem sie nicht winkt, zeigt das Mädchen ihre Autonomie. Diese Annahme wurde bisher durch diesen Methodenschritt [2] nicht bestätigt, aber auch nicht ausdrücklich widerlegt. Denn etliche der Geschichten zeigen auch ganz andere (mögliche) Gründe für das Nicht-Winken des Mädchens auf: Zum Beispiel Müdigkeit sowie beschwingtes oder tanzendes Gestikulieren. Der Zusammenhang zwischen Nicht-Winken und Autonomie ist nicht schlüssig, denn Handbewegungen und deren Unterlassungen können viele Gründe haben.
Mein Betreiben der ‚stillen Annahme‘ mag als Beispiel dafür gelten, dass die Verfestigung von Interpretationen zu Thesen – ohne methodisch begründete Vorgangsweise – wissenschaftlich nicht aufrecht zu halten ist (auch wenn Zufallstreffer möglich sind).
Das Fallenlassen der ‚stillen Annahme‘ wiederum mag überdies als Beispiel dafür gelten, wie hilfreich es sein kann, unterschiedliche Interpretationen einzuholen, und diese in die Auswertung einzubeziehen, und zwar ohne Favorisierung einer der (zunächst) unvermeidlich subjektiven Interpretationen.
(Weiter zu: Die „objektive“ vor der „subjektiven“ Bedeutungsstruktur erschließen)