(Davor: Diese drei Konstellationen generieren Krisen)
Alle drei Forschungsfragen sind hinsichtlich Blatt 24.09[.2012]: Familie, gültig – wenn auch mit gewissen Vorbehalten, die sich aus dem gerade erst begonnenen Schulbesuch Ernas beziehen – beantwortet.
Dieses Resümee wird nun entlang der drei Forschungsfragen, die eine schrittweise Fokussierung aufweisen, aufgeschlüsselt und jeweils im Anschluss daran in (durchnummerierten) Argumenten weiter detailliert.
Zur Beantwortung der Forschungsfrage 1
Blatt 29.09[.2012] ist ein autobiographisches Dokument, das – als Bild – prägnant und autonom ‚für sich spricht‘. Es strahlt eine suggestive Einladung aus, die in Worte gefasst so lauten könnte: Mach mit! Deute mit uns die Welt! – Und die Rätsel dieses Bildes, dessen Beteiligte wir sind. Die Aussagen des Blattes sind also als dialogische Äußerungen zu verstehen.
- In Blatt 24.09[.2012] können zwei divergente Segmente unterschieden werden (siehe Kapitel 2.4.5 und dort Abbildung 13). Auf diese Divergenz hat sich die Rekonstruktion immer wieder im Wechselblick zwischen dem kleineren, detailreicheren linken Bildsegment mit der Vier-Personen-Gruppe, offensichtlich strukturell eineFamilie (siehe Kapitel 2.5.2 und 2.6.2),und dem größeren Bildsegment mit einem mächtig und streng wirkenden Haus (anscheinend die Schule), das auf wildem Grün steht, bezogen.
- Das Blatt hat insgesamt einen eindringlichen, suggestiv mehrdeutigen Gehalt, der zur weiteren Auseinandersetzung einlädt, ja auffordert. Die Suggestion kulminiert im linken Bildsegment (siehe Kapitel 2.4.4 und dort Abb. 12) und wird von der dort dargestellten Pose gleichsam nach außen zu imaginär einbezogenen Bildbetrachter*innen gewendet. Mehr noch: Diese Pose vermittelt durch Gesten, Blicke und die vier aufeinander abgestimmten und doch sehr verschiedenen Akteur*innen der Szene eine Hauptbotschaft an den oder die Betrachter*in: Mach mit! Deute mit uns die Mehrdeutigkeit und Rätselhaftigkeit dieses Bildes, dessen Beteiligte wir sind (siehe Kapitel 2.4.6 und dort Abb. 14)!
- Die werkimmanente Prägnanz des eindringlichen, suggestiv mehrdeutigen Gehalts der Familienszene hat sich (zunächst) als manifeste Pose, mit der etwas Rätselhaftes überzeichnet wird, herausgeschält.
- Das Bildganze sowie die relativ klein aber besonders detailliert ausgeführte Familienszene waren (sodann) Deutungsgrundlage für sehr unterschiedliche Lesarten (siehe Kapitel 2.4.9). ‚Familie‘ ergab sich aus der Auswertung dieser Lesarten (Geschichten) als gemeinsame pragmatische Erfüllungsbedingung für das Generieren dieser unterschiedlichen Geschichten (siehe auch Kapitel 2.6.1).
- In einer Kontrastierung wurden (schließlich) einerseits die gezoomte Mutter-Vater-Kind-Szene, die das Kind gemalt hat, und andererseits eine sozialisations- und familientheoretische Passage zu drei voneinander unabhängigen Krisenkonstellationen, die sich für ein Kind im Rahmen der ödipalen Triade ergeben, in Beziehung gesetzt (siehe Kapitel 2.6.2 und dort Abb. 15):
- 5.1 Es zeigt sich in der vom Kind gezeichneten Familienszene eine stark ausgeprägte Differenziertheit der Beziehungen zwischen den Mitgliedern der familialen Triade und den jeweiligen Dyaden (Mutter – Kind, Vater – Kind, Mutter – Vater),
- 5.2 die überdies in großer struktureller Übereinstimmung mit den theoretisch postulierten Krisenkonstellationen aus der Position des Kindes sind (siehe Abb. 15 in Kapitel 2.6.).
- 5.3 Demnach muss das zeichnende Kind entsprechende Erfahrungen mit derartigen Krisenkonstellationen haben, und bei deren Bewältigung in seiner Autonomie gewachsen sein (siehe Kapitel 1.8 bis 1.11, insbesondere die Thesen 1, 2 und 8),
- 5.4 sowie in der Lage sein, Krisenkonstellationen im Darstellungsprozess zu verarbeiten und zum Ausdruck zu bringen (siehe die Thesen 10 bis 12 in Kapitel 1.11).
- Im freundlichen, persönlichen und schützenden Verband seiner Familie überwiegen Nähe und Offenheit der „diffusen Sozialbeziehung“. In den theoretischen, kontrastierenden Darlegungen der familialen ödipalen Triade ist eine dreifache Krisenkonstellation im Binnenverhältnis dieser eng verbundenen Lebensgemeinschaft ausgeführt (siehe Kapitel 2.5.2 und 2.6.2 samt Abb. 15). Allerdings erscheint die dargestellte Familie weit zur Seite gedrängt.
- In krassem Gegensatz dazu wirkt das Haus im größeren Bildsegment grob, unruhig aus den Winkeln geraten, gereizt und machtvoll herrschend oder zumindest streng kontrollierend.
- Dies, obwohl die Vier-Personen-Gruppe betont freundlich dreinschaut; allerdings blickt sie aus dem Bild ‚heraus‘ zu Betrachter*innen – die Gruppe erwidert also nicht die vermeintlichen Blicke des Hauses und seiner Fenster (siehe Kapitel 2.4.5 und dort Abb. 13).
- Der Untergrund, bestehend aus gewölbten, teils wilden, hastig hingeworfenen, grünen Strichen, verstärkt jene Unruhe, die von rechts vom Haus nach links zur Vier-Personen-Gruppe hin wirkt.
- Gegenüber der Unruhe des Hauses wie auch des Untergrundes erscheint die Gruppe als ruhiger und harmonischer Gegenpol. Diese Wirkung kommt zustande, obwohl die Vier-Personen-Gruppe selbst auch (intern) voller Unterschiede zu sein scheint, nämlich: groß – klein; Mann – Frau; Erwachsene – Kinder; aktiv – passiv; eigenständig – unselbständig. Hier dürfte die tiefe Zusammengehörigkeit und strukturelle Einzigartigkeit der „diffusen Sozialbeziehung“ trotz ihres inneren Krisenpotentials auf allen drei Ebenen der sozialen Konstitution des Individuums (siehe Exkurs 3 in Kapitel 2.5) eine entsprechend zuversichtliche Grundstimmung hervorbringen.
- Die Suggestion – und damit die werkimmanente Prägnanz – des Blattes dürfte auf die Selbstverständlichkeit zurück zu führen sein, mit der man als Betrachter*in zu einem Dialog eingeladen und einbezogen wird. In diesem Dialog soll das Rätselhafte des Dargestellten weiter geklärt werden. Dieser Dialog ist in ‚diffusen Sozialbeziehungen‘, also kleinen sozialen Gemeinschaften nach dem Muster von Familien, selbstverständlich (siehe Kapitel 2.5.2).
- Autonomie ist in der beschriebenen und gedeuteten Ausdrucksgestalt (Blatt 24.09[.2012]) sowohl beiläufig als auch bewusst weitergestaltend zum Ausdruck gebracht:
- 12.1 Zum einen zeigt sich Autonomie in vielen kleinen beiläufigen Handlungen der Blattgestaltung als ‚Handschrift‘ der Autorin.
- 12.2 Zum anderen, und vor allem, zeigt sich Autonomie in der selbstbewusst werdenden Weiterführung des Zeichenprozesses, der sich zunächst auf die eher dicht gedrängte, klein gezeichnete Familienszene und deren Pose konzentriert hat. Sie erscheint auf den ersten Blick harmonisch abgestimmt.
- 12.3 Bei genauerer Betrachtung der dargestellten (drei) Zweierbeziehungen, vor allem aber der Dreiheit von Mutter, Vater und größerem Kind zeigt sich überdies, dass viel Rätselhaftes hineinverwoben ist, was sich vor allem an den Armen dieser drei Personen ausdrückt (siehe Kapitel 2.6.2 und dort Abb. 15). Sodann ist das Ambiente der Familienszene oder Pose zu erwähnen: Der Weg oder das ins Ungewisse führende Wegstück; die grünen Striche, die einen Hügel andeuten, auf dem das große Haus, vermutlich die Schule errichtet ist; so groß, dass der Himmel kaum noch Platz hat, sodass die Sonne nach links zur Familienszene ausweicht, zu dieser Schicksalsgemeinschaft. Das war am 24.09. (Der Name der Signatur ist durch ein Pseudonym ersetzt).
- Zusammenfassend kann zur Forschungsfrage 1 festgehalten werden: Bei Blatt 29.09[.2012] handelt es sichum ein persönlich signiertes, datiertes autobiographisches Dokument, das – als Bild – prägnant und autonom für sich ‚spricht‘. Als Betrachter dieses Bildes, fühle ich mich angesprochen und eingeladen, am zur Darstellung gebrachten Deutungsprozess mitzuwirken.
Die Prämisse in Forschungsfrage 2 gilt als bestätigt
- Die Zeichnung, Blatt 24.09[.2012]: Familie [1], ist etwa zwei Wochen nach Schulbeginn angefertigt (siehe Kapitel 3.7). Daher ist in Beantwortung der Forschungsfrage 2 davon auszugehen, dass die zur Performanz gebrachte Kompetenz fast ausschließlich auf bereits in die Schule mitgebrachte grundlegende Kompetenz zurückzuführen ist.
- Bemerkenswert ist dabei, dass diese Schule einen erheblichen Anteil daran haben müsste, dass diese Kompetenz mit hoher Natürlichkeit ins Fließen gebracht worden ist. (Dieser Annahme wird in Kapitel 3: Die initiale pädagogische Präsentation von Ernas Mappe viel Platz gegeben).
Eine erste (spekulative) Antwort auf Forschungsfrage 3
Die Antwort (siehe Argument 18 weiter unten) dürfte deswegen eher spekulativ ausfallen, da die Erfahrungsbasis des Kindes nach einem nur zwei Wochen dauernden Schulbesuch noch sehr schmal und vage sein müsste. Allerdings spielt Schule auch vor dem faktischen Schulbesuch eine wichtige Rolle im Leben eines Kindes, und zwar als Lebensphase, die auf das Kind zukommt, und es demnach auch in seiner vorwegnehmenden Phantasie beschäftigen dürfte. Außerdem ist allem Anschein nach die Schule – wenn auch von außen – in Blatt 24.09[.2012] zur Darstellung gelangt. So kann schließlich doch (mit dem Vorbehalt des sehr kurzen Schulbesuchs und entsprechend wenig unmittelbarer Erfahrung von Schule) eine Antwort (Argument 18)skizziert werden.
Die Antwort auf die Forschungsfrage 3 wird mit den Argumenten 16 und 17 vorbereitet, indem die Rekonstruktion von zwei divergenten Bildsegmenten aufgegriffen wird, und in diesen Bildsegmenten werden die in Forschungsfrage 3 angesprochenen konträren Kompetenzverständnisse als Typiken in den divergenten Bildsegmenten herausgearbeitet. Grundlage dafür ist die bereits früh im Rekonstruktionsprozess des frühesten Blattes aus Ernas Kompetenzmappe herausgearbeitete manifeste Divergenz der beiden Bildsegmente in Blatt 24.09[.2012] (siehe Kapitel 2.4.5 samt Abb. 13).
- Zunächst erfolgte eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem kleineren, aber sehr detailreich und sorgfältig ausgeführten Bildsegment zu ‚Familie‘. Auch der Exkurs 3 (bzw. Kapitel 2.5) bezog sich auf Sozialisation in einer Familie, oder allgemeiner ausgedrückt, auf drei Ebenen der sozialen Konstitution des Individuums. Schließlich fand eine Kontrastierung von Praxis und Theorie statt, sie ist auch weiter oben in Argument 3 zu Forschungsfrage 1 (siehe Kapitel 2.6.3.1) angesprochen. Dabei wurde auf die Analyse des linken Bildsegments Bezug genommen (siehe Kapitel 2.4.5 und dort Abb. 13). Dabei wurde eine Ausdrucksgestalt der Lebenspraxis eines Kindes mit einem anschaulichen Modell der theoretischen Ausführungen zu Krisenkonstellationen eines Kindes in der ödipalen Triade kontrastiert:
- 16.1 Dadurch erfolgte im Forschungsprozess eine Sensibilisierung für die ‚objektiv latenten‘ Prozesse in einer innerfamilialen Sozialisationskonstellation der ‚ödipalen Triade‘, in der das Kind drei Krisenkonstellationen ertragen muss, die das Kind erstaunlich ‚treffsicher‘ oder ‚gestaltrichtig‘ in Blatt 24.09[.2012] zum Ausdruck gebracht hat, was für die Beantwortung der Forschungsfrage 1 hinsichtlich ‚werkimmanenter Prägnanz‘ betreffend ausschlaggebend war (siehe Punkt 3 in Abb. 15: Krisenkonstellationen der ‚ödipalen Triade‘ in Praxis und Theorie). In Bezug auf die Forschungsfrage 3 ist allerdings die Erfassung der Typiken der ‚diffusen‘ Sozialbeziehung in Unterscheidung zur ‚rollenförmigen‘ entscheidend, worauf das folgende Argument Bezug nimmt.
- 16.2 In ausdrücklicher Unterscheidung zur gerade erwähnten innerfamilialen Sozialisationskonstellation der ‚ödipalen Triade‘, die insgesamt als einzigartige (nur in der ‚ödipalen Triade‘ anzutreffende) ‚diffuse Sozialbeziehung‘ mit vier ‚konstitutiven‘ Strukturmerkmalen charakterisiert worden war, nämlich Körperlichkeit, bedingungsloses Vertrauen, Unbefristetheit und generalisierte Affektbindung, war auch von ‚rollenförmigen Sozialbeziehungen‘ die Rede (siehe Kapitel 2.5.2). Und diese Struktur der rollenförmigen Sozialbeziehung scheint im streng, von oben herab auf die Familie blickenden Haus, also im größeren Bildsegment manifestiert, und gestaltrichtig zum Ausdruck gebracht. Eine Detaillierung der rollenförmigen Seite von Schule, etwa im Hinblick auf Unterrichtsgegenstände und deren Anforderungen suchte man aber in diesem Blatt vergeblich, was sowohl mit der Hauptthematik dieses Blattes (die erst als pädagogischer Kontext in Kapitel 3, insbesondere 3.6 ausgeführt wird, als Hinweis auf die Aufgabenstellung zu Blatt 24.09[.2012]: Ich und meine Familie) als auch mit der kurzen Dauer (etwa zwei Wochen) des Schulbesuchs zusammenhängen dürfte.
- Somit kann als Antwort auf die Forschungsfrage 3 festgehalten werden: In Blatt 24.09[.2012] sind zwei divergente Bildsegmente als widersprüchliche Einheit einer Krisensituation – suggestiv und ‚für sich sprechend‘ – zur Darstellung gebracht.Die ebenso eindrucksvolle wie rätselhafte Darstellung und suggestive Inszenierung dieses Blattes kann als Verarbeitungsweise jener Krisenkonstellation rekonstruiert werden, auf die die Forschungsfrage 3 fokussiert, und die sie auf konträre Kompetenzverständnisse zurückführt. Die daraus resultierende Bewährungsaufgabe ist eindrucksvoll zur Darstellung gebracht, was als Beitrag zur Bewährung in dieser Krisenkonstellation aufzufassen ist.
- 17.1 Das linke, kleinere Bildsegment stellt – sorgfältig und detailreich ausgeführt – eine Gruppe von vier Personen dar. In ihrem Binnenverhältnis kann die Struktur einer ‚diffusen Sozialbeziehung‘ und ‚ödipalen Triade‘ (mit zwei Kindern) rekonstruiert werden. Diese Familie geht und posiertzuversichtlich auf einem Weg ins Ungewisse.Die Szene ist als Krisensituation (verstanden als Fehlen entsprechender Routinen) zur Darstellung gebracht. Gleichzeitig geht aus der Darstellung auch hervor, dass diese Darstellung mit der Muße und Zuversicht eines Kindes bewerkstelligt ist. Das Kind zeigt als Urheberin dieses Blattes, dass es ‚erfahren‘ in Krisen und der Bewältigung von neuen Herausforderungen ist. Dies ist in enger Verbindung mit ihrer Familie und voller Zutrauen geschehen. Deswegen die zur Schau gestellte Gelassenheit. Allerdings bleibt vieles rätselhaft: Wohin führt der Weg? Was bedeutet der unruhige Untergrund? Aber immerhin ist die Darstellung dieses Bildes – also auch des Rätselhaften – gelungen. Und schließlich ist die Schöpferin dieses aussagekräftigen Bildes ja bis hierher gelangt.
- 17.2 Das rechte, größere Bildsegment macht auch einen starken, aber wilden, bedrängenden und strengen Eindruck. Wieder bleibt vieles rätselhaft, wie etwa der gewölbte Untergrund, die Neigung der Fenster, oder das Fehlen eines Einganges. Wenn das die Schule ist, dann hat die Zeichnerin auf den Eingang ‚vergessen‘.
- 17.3 Ganz schön geheimnisvoll die gesamte Szene. Die sorgfältig ausgeführte Gruppe links im Bild hat die Sonne auf ihrer Seite. Die Gruppe schaut – gut aufeinander abgestimmt – freundlich aus dem Bild heraus, als lade sie ein, die rätselhafte Szene gemeinsam zu deuten oder weiter zu gestalten.
- Lässt man sich auf diese kontrastierende Spekulation nicht ein, bleibt immerhin der Eindruck eines auffälligen Qualitätsunterschieds zwischen dem freundlich integrierenden Verband der Familie (links) und dem strengen unnahbaren Bauwerk (vermutlich die Schule) im rechten Bildsegment von Blatt 24.09[.2012].
(Weiter zu: Blatt 31.10.2012: ‚DER NETE GEIST‘)