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Im Vergleich ist Erna noch nicht weit

(Davor: „Das große Problem war die Mathematik“)


Eine Facette dieser bildungsbiografischen Erzählung kommt nun in den Blick, und zwar der Aspekt der Relationierung mit ‚Vergleichswerten‘:

da hatten wir Kinder, die konnten schon im Zahlenraum 100 ahh rechnen und sie hat im Grunde die Zahl Zwei, Drei – mit Minus, Plus gerade geschafft, (Clip3, Audio-Transkript, Abs. 12)

Zunächst wird eine Relation bzw. ein Vergleich hergestellt, nämlich zu anderen Kindern („da hatten wir Kinder“), und zwar offensichtlich zu weiter fortgeschrittenen („die konnten schon“). So ein Vergleich könnte allerdings auch irritieren, vielleicht auch beschämen, vor allem, wenn man (im Vergleich) zu den Schwächeren gehört. Allerdings, so könnte man einwenden, forciert gerade diese Schule Leistungsvergleiche nicht und verzichtet auf Noten bis zur vierten Klasse, erst dann sind sie in Österreich verpflichtend – ab der vierten Klasse dürfen diesbezüglich auch keine schulautonomen Lockerungen mehr stattfinden.

Hinweise auf Angst vor und Vermeidung von Mathematik

Vermutlich ist allerdings das Vergleichs-Denken als Selbstverständlichkeit viel umfassender in den Köpfen (und verbunden mit dem ‚Ort‘ wo die Angst sitzt) verankert, als dass die Angst davor durch derartige Lockerungen oder Stundungen (bis zur vierten Klasse) vertrieben werden könnte.

das heißt sie hat sich unheimlich vor Mathematik gefürchtet, sie hat auch vier Jahre lang immer wieder Mathematik vermieden, ah und bis heute ist Mathematik – ihr großes Angst-Problem. –  – Im schriftlichen, im sprachlichen Bereich ist sie – eins a. (Clip3, Audio-Transkript, Abs. 13)

Auch wenn die Benotung (als Vergleich an der gesetzten oder an Häufigkeitsverteilungen orientierten Norm) in der Grundschule oft – so wie an dieser Schule – auf die für Übertritte maßgebliche vierte Klasse ‚vertagt‘ werden kann, so ist es im (damals und auch heute) aktuellen Schulwesen in Österreich kaum denkbar, dass eine Schule die Vermeidung von Mathematik „vier Jahre lang immer wieder“ toleriert, ohne deutliche Maßnahmen zu setzen, von Stigmatisierungen innerhalb der Klasse ist da noch gar nicht die Rede. So scheint der Hinweis auf „ihr großes Angst-Problem“ doch gut vorstellbar. In Ergänzung dazu erscheint der Hinweis der Schulleiterin auf Ernas besondere sprachliche Fähigkeiten („eins a“) an dieser Stelle zur Entlastung und Relativierung ‚des Problems‘ nachvollziehbar. Die Gepflogenheit der „Stolzblätter“, die in der Klasse ausgestellt werden, trägt da vielleicht auch zur Entlastung bei, sofern man auf anderen Gebieten auf gute Leistungen verweisen kann. Falls man zum Beispiel in Mathematik wenig hat, auf das man (stolz) verweisen kann oder will, so würden vielleicht andere Stolzblätter die Möglichkeit bieten, auf entsprechende Stärken zu verweisen.

Genauere (kritische) Betrachtung des Blattes

Trotzdem erschließt sich (mir) in diesem Zusammenhang der Sinn nicht, inwiefern dieses Blatt ein ‚Stolzblatt‘ gewesen wäre. – Ein Jahr später wird noch gezeigt werden, dass es in der Reihe der Mathematik-Blätter dann doch zu einem bemerkenswerten Bezugsdokument wird. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings hat Maria T. es als ‚Problem‘-Dokument erwähnt. Jedenfalls im (oberflächlichen oder formalen) Leistungsvergleich wäre dieses Blatt (29.10.2012) als ‚schwach‘ einzustufen. Es zeigt ja ‚nur‘ den Zahlenraum Null bis Drei. Allenfalls könnte man den Abstraktionsschritt von konkreten Abbildungen (wie Käfer) hin zu abstrakten Symbolen (Zahlen) als ‚Mathematisierung‘ von zunächst nicht mathematischen Gegebenheiten würdigen. Aber davon ist hier ja nicht die Rede. Vielmehr war von einem Leistungsvergleich zum Zahlenraum die Rede. Und im Vergleich zum Zahlenraum dieses Blattes waren andere schon ‚viel weiter‘. Bei einem bloßen (oder platten?) Leistungsvergleich könnte die Wertschätzung also kippen: Auf diese Leistung bist du stolz? – Vielleicht steht deswegen ja kein Name auf dem Blatt. Vielleicht kann ein Kind sich dem Druck, ein Mathematik-Blatt aufzuhängen, nicht entziehen, auch wenn es wenig vorzuweisen hat. Dann könnte es aber als ein zur Schau gestelltes Kontrollblatt aufgefasst werden. – Aber vielleicht gelingt an dieser Schule ja ein anderer Blick auf Arbeiten und Werke von Schülerinnen?

Da diese (meine) Erwägungen viel an suchender Spekulation enthalten, lohnt es sich, die Tatsachen dieses Blattes 29.10.2012 noch einmal genauer zu betrachten (dieses Blatt wurde bereits als frühes Blatt in Kapitel 2.7.2, Abb. 17 knapp thematisiert): In diesem Blatt sind jeweils in einer Zeile Objekte gezeichnet, wobei eines dieser Objekte (bei genauem Hinsehen) durchgestrichen erscheint; in der Zeile darunter ist dann jeweils eine dazu passende Rechnung. Es folgt nun eine Beschreibung von Blatt 29.10.2012 (Übung: 2 – 1 = ), diese Beschreibung möge nicht mit der Präsentation durch Maria T. verwechselt werden, obwohl sie wie ein Zitat eingerückt ist, stellt sie vielmehr die Verbalisierung des (vorwiegend gezeichneten) Blattinhalts dar:

In der ersten Zeile sind zwei ovale Früchte (oder vielleicht doch zwei Käfer) abgebildet, eins der beiden Objekte ist mit X durchgestrichen.

Darunter steht: 2 – 1 = 1.

Sodann drei Tiere, vielleicht Spinnen mit acht Beinen, ein Tier ist durchgestrichen.

In der Zeile darunter: 3 – 1 = 2.

Danach zwei Tiere mit zwei Flügeln, vielleicht Fliegen. Eines ist durchgestrichen.

Darunter die Rechnung: 2 – 1 = 1.

Darunter ein sechsbeiniges Tier in Schräglage, vermutlich mit Kopf, Augen und Ohren. Durchgestrichen.

Darunter: 1 – 1 = 0.

Darunter eine vermutlich aufrechte Gestalt oder doch ein Insekt mit zwei Fühlern. Durchgestrichen.

Darunter: 1 – 1 = 0.

Das Blatt ist ausgeschnitten bzw. so zugeschnitten, dass es auf ein größeres, kräftig rotes Blatt (ca. DIN A4) passt. Darauf aufgeklebt erscheint es nun rot gerahmt. Es handelt sich also höchstwahrscheinlich um ein sogenanntes „Stolzblatt“, das vermutlich ausgestellt wurde. Allerdings ist es ohne Namen. Jedenfalls gehörte es zum Anhang jener Zusendung, in der die „Einverständniserklärung“ „zur wissenschaftlichen Analyse im Bereich ‚Schulentwicklung – Stärkenorientierung‘“ erfolgt ist (genauer ausgeführt im Bildanhang: 20 Blätter – chronologisch geordnet; siehe auch Kapitel 1.5).


(Weiter zu: Blatt 18.10.2013: ‚Land Des Rechnens‘)