Fallrekonstruktion.net

Pädagogische Offenheit dafür, was konkret zum Fall wird

(Davor: Transkript und Rezeption)


Ernas Elfchen finde ich – bezogen auf den Fokus der Studie – in zwei Hinsichten bemerkenswert: Zum einen ist der Zeitpunkt erstaunlich: Ende Oktober 2012 ist Erna gerade mal sieben Wochen in der Schule. Und das Mädchen hat, ziemlich offensichtlich eigenständig, bereits eine kleine Geschichte verfasst. Zum anderen ist der Inhalt der Geschichte (Angst als persönliches Grundproblem, das die Pädagogin professionell ernst nimmt) bemerkenswert. Beides möchte ich etwas genauer betrachten:

  • Durch den frühen Zeitpunkt in Relation zu Ernas Schulbesuch (erst seit sieben Wochen geht Erna in die Schule) ‚greift‘ die Forschungsfrage 2, mit der die Prämisse einer grundlegenden Kompetenz aus vorgängiger Sozialisation geprüft wird, nämlich ob Kinder ab den ersten Schultagen bei entsprechenden Rahmenbedingungen Werke von authentischer, reflexiver und selbstreflexiver Ausdruckskraft produzieren können, was Autonomie sowohl zur Bedingung als auch zur Folge hat.
  • Der Inhalt dieser kurzen Geschichte (die mit „ANXT“ endet) könnte auf ein Problem in Ernas Entwicklung hinweisen. Und das wiederum wirft Fragen auf, ob und inwiefern die präsentierende Schulleiterin Maria T. sich für diesen (Problem‑)Fall – mit einem dementsprechenden pädagogischen Professionalitätsverständnis (siehe Kapitel 2.5.7) – für ‚zuständig‘ hält. Vor allem aber, wie die Lebensgeschichte Ernas weitergeht, auch hinsichtlich der in der Geschichte angesprochenen Angst (die den netten Geist plagt).

Das Fallverstehen der Pädagogin und Schulleiterin Maria T.s

Das Fallverstehen Maria T.s weist auf beide Momente des sich abzeichnenden Falls hin: Zuerst hebt Maria T. hervor,  „– und die Erna war schon in der Lage, – selbstständig – Geschichten zu schreiben“. Und dann, nachdem sie Ernas Geschichte vorgelesen hat, bringt die Schulleiterin ihre Erfahrung (die wie eine Generalisierung ähnlich gelagerter Fälle klingt) mit dem aktuellen Fall in Verbindung. Mit der Angst des netten Geistes habe Erna ein Grundproblem angesprochen: „Ich hab gsehen, dass, die ersten Bücher, die sie lesen, die ersten Geschichten, die sie schreiben, immer mit einem Grundproblem – hm – ihrer eigenen Persönlichkeit zu tun haben“.

Zusammenhang zum Praxiskonzept ‚Kompetenzmappe‘

Hier, an dieser Stelle der Besprechung des Transkripts der Präsentation interessiert vor allem, wie Maria T. Erkenntnisse aus diesem Material schöpft; sie ist ja immer noch dabei, die Position (die ‚Ansage‘), mit der sie eröffnet hat, nämlich: „Das ist a Kompetenz-mappe, […] im Grunde – eine lückenlose Dokumentation, – von – Lernständen und Entwicklungsständen“ (siehe Kapitel 3.5, Audio-Transkript Clip3, Abs. 2) zu belegen bzw. weiter zu fundieren.

Ein persönliches Grundproblem in der Schule bearbeiten

Maria T. scheint die konkrete Geschichte (Der nette Geist), die für sie ja nicht neu ist, sie hat ja blätternd danach gesucht, also einzureihen in eine Reihe ähnlich gelagerter Fälle, in denen Kinder ein (persönliches) Grundproblem in der Schule bearbeiten. Fälle, die sie, vermutlich meist in der Eile laufender praktischer Anforderungen einerseits zügig betrachtet – hier wurden laut Videoaufzeichnung in vier Minuten bereits zwei Bilder von ihr besprochen – andererseits aber mit Gelassenheit und Überblick auch mit vielen anderen Erfahrungen und Beobachtungen im Laufe des Schullebens in Beziehung setzt. Bei jedem weiteren Treffen zwischen Maria T. und dem Forscher, hat Maria T. auf den weiteren Verlauf der Entwicklung Ernas hingewiesen.

Die Formulierung, „Ich hab gsehen, dass, die ersten Bücher, die sie lesen, die ersten Geschichten, die sie schreiben, immer mit einem Grundproblem – hm – ihrer eigenen Persönlichkeit zu tun haben“, kann als aus früheren Fällen gewonnene Generalisierung aufgefasst werden, auf die sich die Schulleiterin sodann, wie auf gesichertes Wissen, bezieht. In dieses Wissen kann dann in der Logik von Subsumptionauch der aktuelle Fall (Ernas Angstproblem) eingeordnet, also subsummiert werden (zum Fallverstehen siehe auchKapitel 1.8 und 2.6.3 und zur Sequenzanalyse 6.9 und zur Strukturerkennung bzw. Generalisierung 6.10).

Empirisches Nachforschen – was der Fall ist

Ob dieses Wissen tatsächlich – also bezogen auf den konkreten (neuen) Fall und seine Tatsachen – zutrifft, wird von der Schulleiterin (Bf) laut Videoprotokoll bzw. Transkript als empirische Frage abgehandelt, die also an den Tatsachen zu prüfen (zu verifizieren bzw. falsifizieren) ist. Hinzu kommt, dass der aktuelle Fall hier ja als ein Zwischenstand der Entwicklung des Mädchens berichtet wird, und zwar im Sinne einer Bildungsgeschichte, die auf die Entfaltung von Stärken hinauslaufen möge (siehe die Einverständniserklärung zu wissenschaftlicher Analyse, Kapitel 1.5): Also zu dem Zeitpunkt, an dem das Mädchen das verfasst hat, hat sie über Angst („ANXT“) geschrieben, genauer über Angst des netten Geistes. Dieses Problem könnte ja in der Zwischenzeit gelöst sein. So betrachtet macht die einleitende ‚Ansage‘ von „Entwicklungsständen“, die in dieser „Kompetenzmappe“ „im Grunde lückenlos dokumentiert“ seien, Sinn. Die Mehrzahl von Entwicklungsständen ist angebracht, denn man durchläuft – gerade als Kind – viele Phasen und somit Entwicklungsstände im Heranwachsen.

Die ‚Kompetenzmappe‘ als umfassende Dokumentation

Als empirisch zu klärende Frage wird die in diesem Blatt explizit angesprochene Angstthematik auch insofern behandelt, als die Schulleiterin auf ihre fortgesetzten Beobachtungen und Wahrnehmungen verweist: „Die Erna hat bis heute Angst vor unbekannten Situationen, – uund – aah so Angstgeschichten haben sie im Grunde – über vier Jahre verfolgt“. Also die Schulleiterin hat das damals sichtbar gewordene Angstproblem des Mädchens weiter im Auge behalten bzw. in ihren Fallfokus (zu Ernas Entwicklungsstand) aufgenommen. Im hier (bei der Präsentation von Ernas Kompetenzmappe) beleuchteten Fall geht es um die offene Frage: Was liegt hier vor? Dazu hat Maria T. eine einleitende Behauptung aufgestellt, die im Laufe des Präsentationsgesprächs Blatt für Blatt zunehmend begründet wird. Zu den behauptenden Feststellungen („Das ist eine Kompetenzmappe, … [die] im Grunde eine lückenlose Dokumentation von Lernständen und Entwicklungsständen ist“) kommt im Konkreten auch ein Problemfokus, Angst, hinzu. Dieser zusätzliche Fokus (in der pädagogischen Aufmerksamkeit der Schulleiterin für die Entwicklung dieses Mädchens) hat sich explizit aus der ersten Geschichte ergeben, die das Mädchen geschrieben hat. Dass in diesem Blatt 31.10.2012 zunächst das Ereignis – Erna kann schon eine Geschichte schreiben! – im Vordergrund stand, wird dabei zu einer, wenn auch bemerkenswerten, Nebensache.


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