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Transkript und Rezeption

Abbildung 18: Blatt 31.10.2012: ‚DER NETE GEIST‘

Aus dem Audio-Transkript der Videoaufzeichnung

Bf: […] – Das ist am – – 31. Oktober [siehe Blatt 31.10.2012] ein Text, den sie frei geschrieben hat. Das heißt, die anderen Kinder waren – vielleicht – bei – zehn Buchstaben, – und die Erna war schon in der Lage, – selbständig – Geschichten zu schreiben. – Und des is eine dieser Geschichten. In ihrer Leitschrift.

DER NETE
GEIST WOLTE
NIMANTEN WETUN
ABER ER HATE EIN
BOBLEN ER HATE
ANXT

 – und die Erna ist ein Mädchen, das sehr viel Angst hat: Ich hab gsehen, dass, die ersten Bücher, die sie lesen, die ersten Geschichten, die sie schreiben, immer mit einem Grundproblem – hm – ihrer eigenen Persönlichkeit zu tun haben. Die Erna hat bis heute Angst vor unbekannten Situationen, – uund – aah so Angstgeschichten haben sie im Grunde – über vier Jahre verfolgt. – aah – (Clip3, Audio-Transkript, Abs. 9 [der Wortlaut der Geschichte Ernas ist hier in Ernas Schreibweise nachträglich eingefügt]).

Nachdenkliche Rezeption des Forschers

Das Erinnern und das Nachzeichnen jener kleinen Episoden einer einzelnen Schülerin – diese Schule umfasst etwa einhundert Schülerinnen und Schüler – scheint nicht ganz einfach zu sein, dafür könnte das einleitende Räuspern stehen: „kmhm hab ich da gesehen, und relativ früh bemerkt, dass […]“. Das Transkript zeigt Pausen der Nachdenklichkeit, die auch dem Suchen und Blättern in der Mappe dienen: Anscheinend verbindet die Schulleiterin mit bestimmten Blättern – Dokumenten – des Mädchens Episoden ihrer Entwicklungsgeschichte.

Mich berührt dieses Blatt 31.10.2012: ‚DER NETE GEIST‘

Mich berührt dieses Blatt. Es beschäftigt mich vor allem:

  • Wie die vorgedruckten Konturen des Bildes ausgemalt sind, denn der Geist tritt invers hervor.
  • Die Schreibweise scheint noch keine Konventionen zu beachten, folgt dem Gehörten: ANXT.
  • Mit Hilfe des netten Geistes scheint es (endlich) zu gelingen, ein Problem auszusprechen.

Ich habe mich später bei der Schulleiterin Maria T. zu den näheren Umständen in der Klasse, zu den didaktischen Materialien, also auch zu diesem Vordruck und seinem Einsatz erkundigt. Maria T. konnte dazu Folgendes sagen:

Informationen zu Ernas Klasse

Das Mädchen geht in eine Mehrstufenklasse. Einige Anregungen für Elfchen (aus dem Internet) liegen in einem, allen Kindern zugänglichen, Kasten in der Klasse auf. Geschichten aus wenigen Worten zu verfassen, steht auf dem Programm der zweiten Schulstufe. Was die anderen Stufen machen, bekommen die „Kleineren“ oft mit, so wie anscheinend Erna in Bezug auf das ursprünglich leer vorliegende Blatt 31.10.2012. Es spricht in dieser Mehrstufenklasse nichts dagegen, dass ein Kind vorzeitig etwas versucht oder auch später etwas übt.

Das vorliegende Elfchen weist einige Besonderheiten auf: Es beruht auf einem Vordruck, der in der unteren Hälfte Malumrisse (zum Ausmalen) enthält. Die obere Hälfte hat elf Linien, die jeweils in etwa so lang sind, wie ein Wort sein könnte. Der Rest könnte sich so zugetragen haben, der folgende Absatz ist also eine gedankenexperimentelleLesart zu Blatt 31.10.2012:

Eine (gedankenexperimentell) Lesart

Erna hat am Halloween-Tag – etwa sieben Wochen nach ihrem Schuleintritt – mitbekommen, dass einige der Kinder eine schaurige Geschichte erfinden oder malen. Da holt sie sich so ein Blatt und malt die Flächen an. Es zeigen sich – im weiß gebliebenen Teil des Blattes – die Umrisse eines Gespenstes. Zu diesem Gespenst, das Erna sympathisch ist, fällt Erna eine Geschichte ein. Sie beginnt einfach auf der ersten Zeile zu schreiben: DER NETE. So ist es zu diesem Elfchen gekommen. Einige Zeit später ordnet sie dieses Blatt: 31.10.2012 in ihrer Mappe ein, vielleicht merkt sie da, dass es vierzehn Worte sind, vielleicht merkt sie das viel später oder auch gar nicht. Vielleicht sagt ihr der Name Elfchen bis heute nichts – obwohl es im Internet eine Unmenge von Anregungen dazu gibt (Suchbegriff: Elfchen). Leider sind fast alle bereits ausgefüllt. – Soweit also zum offenen Schreibkonzept „Elfchen“, das weit über Schulen hinaus bekannt ist, wenn man die vielen Beispiele im Internet in Betracht zieht. Für die aufgeschriebene Lesart, wie dieses Elfchen zustande gekommen sein könnte, habe ich auch ein wenig recherchiert.


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