Fallrekonstruktion.net

Rekonstruktion einer Krise und deren Bewältigung

(Davor: Ein Exempel für die Sequentialität der Lebenspraxis)


Abbildung 6: Strukturtransformation im Schreibprozess – grafisch nachbearbeitet

Der vorliegende Schriftzug kann formal und inhaltlich (sequentiell) als Manifestation einer  Krise und auch deren Bewältigung (bzw. Krisenlösung) rekonstruiert und erklärt werden:

  • Formal (grafisch) ist offensichtlich die Wirkung des kräftig roten Zeichenblattes eine Herausforderung, ein Impuls, eine Möglichkeit und Chance, kurz: eine Krise, die die Zeichnerin nach und nach bewältigt, indem sie ihre offensichtlich irritierte (in die Krise geratene) Schreib- und Ausdrucksroutine solange ändert (Abb. 6), bis sie schließlich ein Mittel mit zufriedenstellender Wirkung in Form eines schwarzen Filzstiftes zum Einsatz bringen kann, siehe den Schriftzug „ERNA“ in Abbildung 5. Die Rekonstruktion des ganzen Blattes 01.10.2012 erfolgt in Kapitel 2.3.
  • Auch inhaltlich stellt der Satz „ICH KANN GUT REITEN“ eine Manifestation einer Krise sowie der Bewältigung dieser Krise dar. Dazu ist es instruktiv, das sequentielle Anwachsen dieser Aussage schrittweise hinsichtlich eröffneter Möglichkeiten und vollzogener (Sprach‑)Handlungen zu rekonstruieren, und dabei Gedankenexperimente zu Handlungsmöglichkeiten einzuflechten.

„Ich (…)“ – weist in eine offene Zukunft

„Ich (…)“ am (Satz‑)Anfang geäußert, eröffnet einerseits einem Subjekt (das bereits ‚ich‘ sagt) viele Tätigkeitsperspektiven (ich gehe, ich sehe, ich reite, denke usw.). Theoretisch überhöhend ausgedrückt: Wer „Ich (…)“ sagt, setzt bereits symbolisch einen Schritt in eine ‚offene Zukunft‘ (siehe Oevermann 2002, S. 6f.), es gibt ja viele unterschiedliche Möglichkeiten der Fortsetzung, die erst mit der nächsten Handlung konkret(er) wird. Andererseits liegt auch ein Zugzwang,nämlich weiter zu machen, im eröffnenden „Ich (…)“. Meist fällt dieser Zugzwang gar nicht auf, insofern er ohnehin mit der Bereitschaft zusammenfällt, mehr zu sagen bzw. zu tun. Die Redensart, wer A sagt muss auch B sagen, zeugt davon. (Auf den Unterschied zu einer kurzen reaktiven, etwa auf eine Frage antwortenden, Ich-Äußerung sei hier nur am Rande hingewiesen: Wer kommt mit? – Ich [komme mit]).

Parameter I und II

An dieser Sequenzstelle („Ich (…)“) einer grundsätzlich sequentiell konstituierten menschlichen Handlungsabfolge können zwei Parameter rekonstruiert werden (Oevermann 2000, S. 64f.):

  • Ein Parameter I, auch Generier- oder Möglichkeitsstrukturparameter genannt, der über die subjektiv zugänglichen Möglichkeiten hinaus gehend auch die objektiv gegebenen, gedankenexperimentell bestimmbaren Anschlussmöglichkeiten ausweist, und
  • ein Parameter II, auch Fallstruktur- oder Auswahlparameter genannt (vgl. auch Oevermann 2002, S. 6-9; Oevermann 2013, S. 75 sowie S. 90-94).

Wer – authentisch – „Ich (…)“ sagt, tritt in einen krisenhaften Bildungsprozess ein

Den Möglichkeitsparameter I bezüglich des Äußerungsanfangs („Ich …“) bestimmen zu wollen, erscheint zunächst weitgehend müßig, denn für jemanden, dem die deutsche Sprache geläufig ist, ist intuitiv klar, dass sehr, sehr, sehr viele (sinnvolle und wohlgeformte) Fortsetzungsmöglichkeiten denkbar und viele davon auch gebräuchlich sind. Doch genauer betrachtet, gerät ein Subjekt, das „Ich“ sagt, in eine Krise der sich bietenden Möglichkeiten, denn jede Fortsetzung der (Sprach‑)Handlung führt zur Realisierung nur einer der vielen Möglichkeiten, und positioniert das so handelnde Subjekt sowohl bezüglich der sozialen Situation als auch zu sich selbst (in einem gewissen Ausmaß) neu. So betrachtet, ist wer „Ich“ sagt, in einen krisenhaften Bildungsprozess mit offenem Ausgang eingetreten. In Bezug auf den Möglichkeitsparameter ist an dieser Sequenzstelle also festzuhalten: Die sprachlich gegebenen Anschlussmöglichkeiten sind nicht nur virtuell bzw. gedankenexperimentell von großer Vielfalt, sondern stellen für das Subjekt, das „Ich“ als Anfangswort sagt oder schreibt, auch faktisch eine krisenhafte Herausforderung dar.

Der Auswahlparameter II, der Prinzipien und Dispositionen jener Lebenspraxis (bzw. jenes Subjekts) im Auswahl- bzw. Entscheidungsprozess ausweist, kann erst durch die Rekonstruktion der getroffenen und vollzogenen Entscheidung bestimmt werden, die mit der Erweiterung der Aussage zu „Ich kann (…)“ gegeben ist. Das ursprünglich mit „Ich (…)“ gegebene sehr, sehr, sehr breite Spektrum von Möglichkeiten ist nun deutlich eingeengt. Allerdings ist dieses Spektrum immer noch sehr, sehr breit, insofern noch nicht festgelegt erscheint, ob ‚kann‘ hier als ein Modalverb (wie: dürfen, können, mögen, müssen, sollen und wollen) oder aber als Vollverb (im Sinne von: beherrschen, vermögen, wissen oder verstehen) eingesetzt ist. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass ein möglicher Effekt von Modalverben darin bestehen kann, einen Möglichkeitsraum – mehr oder weniger abseits von bloßen Tatsachen – zu eröffnen.


(Weiter zu: Im Schulwesen wimmelt es von (unauthentischen) Ich-Kann-Phrasen)