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EXKURS 1: Die Autonomie des Kunstwerks als Strukturmodell für Bildung

(Dieser Exkurs schließt an die ersten neun der 15 Thesen an)

Vorüberlegungen

Die folgenden – als Exkurs weitgehend in sich geschlossenen – Ausführungen dienen nicht nur der Herleitung und Detaillierung der gerade postulierten These 9. Vielmehr soll auch tief in die Denkweise und Methodologie Ulrich Oevermanns eingetaucht werden, um dessen theoretische wie methodische Impulse für die Bildungswissenschaft in Gestalt eines an der Autonomie des Kunstwerks orientierten Strukturmodells für Bildungsprozesse aufzubereiten.

Bemerkenswert in der Argumentation Oevermanns im hauptsächlich zitierten Vorwort ist zunächst, dass er nicht mit dem Kunstwerk oder dessen Rezeption, sondern – allgemeiner – mit der „Konstitution von Erfahrung“ beginnt (Oevermann 1996, S. v). Dabei wendet Oevermann sich Strukturen zu, die für die Genese eines vorgefundenen Werkes ausschlaggebend sind. Dieses Interesse an Strukturen wiederum scheint typisch zu sein für Oevermanns Verständnis der Methodologie der Objektiven Hermeneutik, die im Frühstadium auch strukturale oder genetische Hermeneutik genannt wurde (vgl. Kapitel 6.10: ‚Struktur‘: Allgemeines und Besonderes zugleich). Die Methodologie der Objektiven Hermeneutik schlägt im Verständnis eines „genetischen Strukturalismus“ einen Strukturbegriff vor, in welchem

Allgemeines und Besonderes als Moment der Sache selbst zur Geltung gebracht werden, also die Sache selbst als etwas gefasst ist, das Allgemeines und Besonderes zugleich ist (Oevermann 1991, S. 269).

Nun komme ich zum Kontext des im Folgenden ausführlich zugänglich gemachten Vorworts (siehe Oevermann 1996, S. v-xiv), das die Dissertation von Thomas Loer (Loer 1996) einbegleitet. In dieser Dissertation wird die Rezeption von Kunstwerken durch Museumsbesucher untersucht. Die Betrachtung von Kunstwerken erfolgt bei Loer aus zwei für die Objektive Hermeneutik typischen polaren Perspektiven, einerseits naiv oder naturwüchsig und andererseits wissenschaftlich. Abseits der genannten Pole wird die kulturindustrielle Kunstvermittlung im museumspädagogischen Kontext verortet, diese laufe auf „Halbbildung“, die schon Adorno kritisiert habe (Adorno 1979), hinaus. Darauf dürfte auch der Titel zu Thomas Loers Buch: Halbbildung und Autonomie verweisen (Loer 1996).

In den letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts hatte sich die Objektive Hermeneutik in verschiedenen Anwendungsfeldern als empirische Forschung etabliert. Dies geschah zwar unter Anknüpfung an die Kritische Theorie Adornos, wobei Oevermann jedoch den Anspruch erhebt, über die Kritische Theorie hinauszugehen, und dieser eine entscheidende Wendung zu empirischer Fundierung im Rahmen der Methodologie der Objektiven Hermeneutik zu geben (vgl. Oevermann 1983).

Loer rekonstruiert in seiner Studie sowohl vier Kunstwerke, die in einem Museum ausgestellt sind als auch die Rezeption dieser Werke durch Museumsbesucher*innen. Und im hier ausführlich zitierten Vorwort wirft Oevermann einen Metablick auf den Forschungsprozess Loers. Am Beginn dieses Vorworts skizziert Oevermann in vier Punkten „theoretische Begründungen der Autonomie des Kunstwerksund […] ein über das künstlerische Handeln hinausgehendes, allgemeingültiges Modell von lebenspraktischer Authentizität und Sachhaltigkeit“(Oevermann 1996, S. v und vi [Hervorhebungen R.S.]). Auf diese vier Punkte bauen die folgenden Thesen 10 bis 15 auf und machen sie für das Verstehen von Bildungsprozessen fruchtbar.