Fallrekonstruktion.net

These 10 zur Kunst als ‚Lupe‘ auf Prozesse der Konstitution von Erfahrung

Kunst wirkt als Lupe, unter der man Prozesse der Konstitution von Erfahrung, und damit den Mechanismus, wie Neues erzeugt und Bildung vollzogen wird, studieren kann.

Oevermann führt dies in einem Punkt 1 (der hier auf zwei Zitate aufgeteilt ist) wie folgt aus:

1. Im Kunstwerk und im künstlerischen Handeln kristallisiert sich gesteigert der auch für die Alltagspraxis in Anschlag zu bringende Modus der Konstitution von Erfahrung bzw. der Transformation von Sachvorstellungen in Symbolvorstellungen oder unartikulierter Roherfahrung in interpretierte Erfahrung. Insofern lässt sich am künstlerischen Handeln wie unter einem Vergrößerungsglas der allgemeine, für die Soziologie zentrale Mechanismus der Erzeugung von Erfahrung studieren (Oevermann 1996, S. v).

Das Kunstwerk wird als gesteigerte Möglichkeit gewürdigt, die Art und Weise (den „Modus“) des Zustandekommens (der „Konstitution“) von „Erfahrung“ zu „studieren“. Insbesondere wie „Sachvorstellungen“ in „Symbolvorstellungen“ und „unartikulierte Roherfahrung“ in „interpretierte Erfahrung“ transformiert werden. Bereits an dieser Stelle der Entfaltung von Punkt 1 möchte ich auf eine Analogie – ja Homologie, also Strukturgleichheit – zu Bildungsprozessen hinweisen.

Lernen versus Bildung

Für die Homologie von künstlerischem Handeln und Bildungsprozessen spricht, den Strukturanalysen Oevermanns folgend, dass beide aus Krisen emergieren, Neues hervorbringen und schließlich: Autonomie sowohl voraussetzen als auch entstehen lassen.

Oevermanns Gesamtwerk ist aus dem langjährigen Studium von (gemeinschaftlichen) Sozialisationsprozessen, die gleichzeitig als (individuierende) Bildungsprozesse zu verstehen sind, wie Oevermann selbst in frühen (1976 erstmals publizierten) forschungsprogrammatischen Überlegungen ausdrücklich betont (siehe Oevermann 2012). Das führt schließlich zu folgender Unterscheidung von krisenhafter Bildung einerseits und Lernen als Aneignung von Routinen andererseits:

Bildung unterscheidet sich nun aber vom bloßen Lernen genau in dieser Hinsicht, daß sie im Kern in einem Prozeß der Krisenbewältigung besteht und deshalb auch nur sehr begrenzt standardisierbar ist […]. Dagegen ist das Lernen eine Angelegenheit der Routinisierung. In ihm muß ein kodifiziertes Wissen durch wirksames Training angeeignet werden. Die für es typische Form ist das Auswendiglernen von Texten, das Einprägen von Vokabeln ins Gedächtnis. Wohlgemerkt: Bildung ist nicht ohne den Bestandteil von Lernen möglich und insofern ist Lernen fraglos notwendig. Aber es zum dominanten Modell zu erheben, […] bedeutet eben die Beschneidung von Bildungsprozessen auf standardisierbare Routinen (Oevermann 2016, S. 112).

Der springende Punkt dabei ist also, dass bei Bildung – in eigener Erfahrung begründet – Neues entsteht, während bei Lernen etwas übernommen wird, das (jedenfalls zu diesem Zeitpunkt) nicht in eigener Erfahrung gründet.

Wie emergiert Neues?

Diesen ‚Mechanismus‘, der zu Neuem führt, betont und ‚erklärt‘ Oevermann in Fortführung des oben zitierten Punkt 1 folgendermaßen:

Dieser [Mechanismus der Erzeugung von Erfahrung] wiederum ist zentral für die Beantwortung der allgemeinen Frage, wie Neues erzeugt wird, wie aus Krisen Lösungen erwachsen, die später Alltagsroutinen werden. Künstlerisches Handeln ist entsprechend ein prominenter gesellschaftlicher Strukturort für die systematische Erzeugung von Neuem (Oevermann 1996, S. v).

Der Erklärungsansatz für die Erzeugung von Erfahrung mutet zunächst wie eine Ausweitung der Fragestellung ‚Wie wird Neues erzeugt?‘ an, nämlich: Wie erwachsen aus Krisen Lösungen, die später Alltagsroutinen werden? Jedoch steckt in dieser Fragestellung bereits das „analytische Paradigma der Objektiven Hermeneutik von ‚Krise und Routine‘“ (siehe Oevermann 2016, systematisch aufbereitet im Glossar bzw. Kapitel 6 insbesondere im Punkt 6.8: ‚Krise und Routine‘ – das Paradigma der Objektiven Hermeneutik):

Im Gegensatz zum praktischen Denken und Handeln, das Krisen vermeidet,und solange wie nur möglich zu bereits bewährten Routinen greift, geht der wissenschaftliche – krisentheoretische – Erklärungsansatz weiter ‚zurück‘, und fragt nicht nur nach dem Zustand, der vor der (Krisen-)Lösung bestanden hat, sondern auch, wie eine neue Lösung „erzeugt“ worden ist. Dies ist in der Formulierung „aus Krisen erwachsen [bzw. emergieren] Lösungen“ zum Ausdruck gebracht. Ich habe diese Passage um emergieren ergänzt, um näher an den Erklärungsansatz für „Neues“ heranzurücken. Die empirische Begründung bzw. Erklärung der Emergenz neuer Lösungen ist eine, in der Hirn-, Kognitions- bzw. Bewusstseinsforschung aber auch im wiederkehrenden Disput über den freien Willen, hochbrisante Frage. Oevermann bezieht sich auf diese Diskussionen, aber auch auf entsprechende neurologische Experimente, in der krisentheoretischen Logik der Objektiven Hermeneutik folgendermaßen:

In der Unmittelbarkeit der Krisenbewältigung emergiert für das Bewußtsein ein im Unterbewußten vorbereiteter Entschluß, dessen Determiniertheit im Unterbewußten erst durch nachträgliche Rekonstruktion zum bewußten Wissen werden kann (Oevermann 2016, S. 98, Fußnote 29).

Ohne auf die Stichhaltigkeit dieser sehr generellen konstitutionstheoretischen ‚Erklärung‘ hier einzugehen (dafür bieten sich im Zuge der folgenden Rekonstruktionen noch viele Gelegenheiten), wird das Muster von Oevermanns krisentheoretischem Erklärungsansatz deutlich:

Der krisentheoretische Erklärungsansatz für „Neues“

Sobald das handelnde Subjekt anerkennt, dass es keine Lösung (zum Beispiel für die zeichnerische bzw. symbolische Darstellung einer ‚Sachvorstellung‘) parat hat, oder aber mit den bisherigen Lösungen gescheitert ist, ihm also die Krise bzw. ein entsprechender Lösungsbedarf bewusst wird, kann es einen Schritt – ins Ungewisse – zu einer erhofften Lösung wagen. In dieser ‚Unmittelbarkeit‘ der Praxis also, in der eine ‚Krisenbewältigung‘ riskiert wird, kann Neues emergieren. Das Neue ist allerdings im „Unterbewußten“ bereits vorbereitet, ein „Entschluß“ ist also bereits ‚gereift‘ oder ‚gefasst‘, auch wenn er noch nicht bewusst geworden war. Es bedarf der nachträglichen Rekonstruktion, dass in der Folge daraus (aus der intuitiv gefundenen und riskierten Krisenbewältigung) ‚bewusstes Wissen‘ werden kann.

Der krisentheoretische Erklärungsansatz ergibt sich aus einer kleinschrittigen sequenzanalytischen Verfahrensweise fast zwangsweise, was an der Stelle allerdings nur postuliert wird. Einzulösen sind derartige Postulate, dann im Zuge konkreter, kleinteiliger Analyse.