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These 12 zu ‚Gültigkeit‘ und ‚Wahrheit‘ – Innere, ‚authentische‘ Gewissheit

Eine Manifestation von Bildung bezieht ihre Gültigkeit (ebenso wie ein Kunstwerk), ihre Aussagekraft und ihre fortgesetzte, nachhaltige Bezugsfähigkeit nicht aus der Übereinstimmung mit bereits vorliegenden Aussagen oder Wissensbeständen, sondern aus selbst aufgebauten, inneren, also authentischen Gewissheiten.

Auch der dieser These zugrunde liegende Punkt 3 aus Oevermanns Vorwort ist zur Besprechung auf mehrere Zitate aufgeteilt:

3. Die Gültigkeit eines Kunstwerks, und seine Autonomie ist dafür eine notwendige Bedingung, bemisst sich nicht an einer irgend gearteten Korrespondenz mit einer unabhängig von ihm existierenden Wirklichkeit, analog zur Korrespondenz des propositionalen Gehalts von Aussagen über die erfahrbare Wirklichkeit mit dieser Wirklichkeit. Vielmehr ist sie eine Funktion der Authentizität qua Ausdrucksgestalt in Relation zur fiktionalen Wirklichkeit, die ihr immanent ist (Oevermann 1996, S. v-vi.).

Der einleitende Satz greift die gerade besprochene These 11 (bzw. Pkt. 2 im Zitat) zur Autonomie als „Bedingung“ des künstlerischen Schaffens wieder auf, und zwar in Form eines abgrenzenden Hinweises. Demnach werde im Kunstwerk keine „irgend geartete Korrespondenz“ mit einer anderen als der eigenen „fiktionalen Wirklichkeit“ hergestellt. Dann erst folgt die Hauptaussage, wonach das Kunstwerk in selbst aufgebauten, inneren – also authentischen – Gewissheiten gründet:

Insofern stellt das autonome Kunstwerk ein gesteigertes Modell für die Grundrelation von Authentizität zwischen Ausdrucksgestalt und verkörperter Lebenspraxis dar (Oevermann 1996, S. v)

Das Postulat, dass das Kunstwerk zum „Modell“ für das Verständnis einer eigenen ‚Wahrheit‘ der „Lebenspraxis“ und ihrer Verkörperungen bzw. Werke wird, wird im Folgenden ausgebaut.

Auch das folgende Argument zu ‘Wahrheit‘ wird zunächst in Abgrenzung zu gängigen Vorstellungen aufgebaut:

‘Wahrheit‘ ist hier nicht eine Funktion von Argumenten, deren Geltung sich in einer Kombination von immanenter logischer Schlüssigkeit und erfolgreicher Konfrontation mit protokollierter Erfahrung überprüfen lässt, sondern eine Funktion der Gültigkeit der Ausdrucksgestalt als prägnanter Verkörperung einer Praxisform (Oevermann 1996, S. v-vi).

Zunächst wird zur Abgrenzung ein gängiges Verständnis von ‚Wahrheit‘ formuliert: Dabei entstehe „Geltung“ aus einer „Kombination“ in sich (immanent) logisch schlüssiger Argumente und deren „erfolgreicher Konfrontation“ mit  äußerer Wirklichkeit.

Demgegenüber werde die ‚Wahrheit‘ eines „Kunstwerks“ durch ein – diesem Werk immanentes – Gefüge begründet. Dabei kommt der „Authentizität“ eine Schlüsselrolle zu: ‚Wahr‘ (bzw. von hoher „Gültigkeit“) ist demzufolge ein Kunstwerk insofern, als es eine „prägnante“ „Verkörperung einer Praxisform“ (des Kunstschaffenden) ist. Anders gesagt: Das Werk hat einen authentischen Bezug zur Praxis des jeweiligen Künstlers, seiner Wahrnehmung, seinem Erleben und deren Verarbeitung (also zur inneren Wirklichkeit).

Zur Unterscheidung von sinnlicher und begrifflicher Erkenntnis

An dieser Stelle von Punkt 3 fügt Oevermann eine „grundlegende“ Differenzierung zwischen „begrifflicher und sinnlicher Erkenntnis“ ein:

Dem liegt die grundlegende Scheidung zwischen begrifflicher und sinnlicher Erkenntnis zugrunde (Oevermann 1996, S. vi).

Zwar ist diese Unterscheidung ontogenetisch, also bezüglich der Entwicklung des einzelnen menschlichen Individuums, allen unseren Erfahrungen nach selbstverständlich. Denn wir ‚begreifen‘ zuerst mit unseren Sinnen: Also wir ertasten, erfühlen, beschnuppern, erkrabbeln usw. – jedenfalls in unseren frühen Jahren – zunächst mit unseren Sinnen uns, unsere unmittelbare Umgebung und letztlich unsere Welt. Erst später kommt zum sinnlichen Begreifen das abstrakte begriffliche also symbolische Benennen und ‚Begreifen‘ hinzu.

Doch die ontogenetische Entwicklung ist eingebettet in eine gesellschaftliche und sozialisatorische Entwicklung. Sie wird im Folgenden soziologisch betrachtet.

Rationalisierung und Autonomie – professionelle Entlastung

Der Sozialpsychologe und Soziologe Ulrich Oevermann sieht in der genannten (Unter-)Scheidung von sinnlicher und begrifflicher Erkenntnis in Anknüpfung an Max Weber auch einen „universalhistorischen Prozess der Rationalisierung“, der „gleichermaßen und gleichzeitig“ – dialektisch – auch Gegenspieler etwa in Form eines „Professionalisierungsprozesses“ hervorbringt. Die Ausführungen zu Punkt 3 zur Gültigkeit des Kunstwerks werden nun fortgesetzt und zum Abschluss gebracht:

Beide Erkenntnisformen gehen in der Alltagspraxis eine naturwüchsige dialektische Verbindung ein. Beide differenzieren sich als methodisch kontrollierte Modi institutionalisierter ‚Untersuchung‘ von ‚Welt‘ gleichermaßen und gleichzeitig im universalhistorischen Prozess der Rationalisierung (im Sinne Max Webers) aus und ziehen gleichermaßen – soziologisch gesehen – einen die jeweilige Autonomie der Erkenntnistätigkeit (und eine damit verbundene Praxisentlastung) sichernden Professionalisierungsprozess nach sich. Diesen professionalisierungstheoretisch zu explizieren, ist nach wie vor eine ungelöste Aufgabe der Soziologie (Oevermann 1996, S. vi).

Trotz ihrer Unterschiedlichkeit würden „beide“ „Erkenntnisformen“ (also die sinnliche und die begriffliche Erkenntnis) „in der Alltagspraxis eine naturwüchsige dialektische Verbindung“ eingehen, um – in Ergänzung bei aller Gegensätzlichkeit – zur ‚Untersuchung‘ von ‚Welt‘ beizutragen.

Dabei würden jeweils „institutionalisierte“ bzw. „methodisch kontrollierte Modi“ zu forschen entstehen. Man kann das auch so darstellen: „Der historisch universelle Prozess der Rationalisierung“ aller Lebensbereiche treibt auch sein Gegenteil voran, nämlich die autonome Erkenntnis von autonomen bzw. autonom werdenden Subjekten. Dabei verbinden sich sinnliche und begriffliche Erkenntnisse. Im Zuge dessen werden spontane Erfahrungen genutzt, um schließlich „methodisch kontrollierte Modi“ der Verarbeitung von Erfahrung zu entwickeln, und diese letztlich auch zu institutionalisierten und professionalisierten Forschungsweisen weiter zu entwickeln. Eine Aufgabe professionalisierter Unterstützung von Lebenspraxen sei schließlich, diese Subjekte in Not oder Krisen so zu entlasten, dass sie ihre volle (autonome) Handlungsfähigkeit wieder gewännen. Allerdings wären – hier nur angedeutete – Ausarbeitungen einer entsprechenden Professionalisierungstheorie erst zu leisten (genauer in Oevermann 1996a sowie Oevermann 2008). In diesem Zusammenhang möchte ich auch erwähnen, dass Oevermann in weiteren Theoriebereichen, welche die Bewältigung universeller Rationalisierungstendenzen betreffen, an Max Webers Analysen anknüpft, etwa in Form von krisen- und charismatheoretischen Ausführungen (vgl. Oevermann 2016). Beide Theoriebereiche haben viele Bezüge zur Theorie der Autonomie des Kunstwerk, die hier in den Vordergrund gerückt ist.