(Davor: Herleitung der Prinzipien der objektiv hermeneutischen Bildanalyse)
Aus der doch etwas länger geratenen Besprechung einzelner wie auch gruppierter Argumente möchte ich noch Meta-Gedanken zu Synchronizität, zur Polarität von Rand und Mitte, zu Prägnanz-Bildung und schließlich zur Besonderheit dieses Grafikbildes (Abb. 9) hervorheben:
Synchronizität
Am deutlichsten dürfte die Synchronizität – alles ist gleichzeitig zu sehen – ins Auge springen: Die drei mal drei Felder sind mit einem Blick (im Augenblick) erfassbar. Manche empfinden dabei auch die Magie dieser Gleichzeitigkeit. Während Argumente in der Zeit, die hier in fortlaufenden Nummern angedeutet wurde, entwickelt werden, ist hier im Bild jedoch die Zeit gleichsam zur Gleichzeitigkeit gerahmt und gebannt. Würde es sich um ein Ereignis handeln und es gäbe ein Foto davon, würden wir es Schnappschuss nennen. Aufgeschnappt zu einem bestimmten Augenblick, und zwar als die neun Argumente gleichsam wie ein üppiges Mahl fertig aufgetischt sind.
Polarität von Rand und Mitte
Auch die Polarität von Rand und Mitte dürfte von den meisten (von uns allen) sowohl augenfällig, unmittelbar und intuitiv wahrzunehmen, als auch genauer und abwägend zu betrachten sein. Auch wenn das, was im Zentrum steht, wichtig und besonders bedeutungsvoll erscheint, nehmen wir doch Peripheres meist gleichzeitig wahr. Allerdings steht hier nicht das subjektive Wahrnehmungsverhalten im Vordergrund, für das es eigene Beobachtungsstrategien wie Eye-Tracking (Blickerfassung) gibt. Hier jedoch geht es um die im jeweiligen Bild objektivierten Sinnstrukturen, und wie darin durch Regeln und Relationen Bedeutungen (Sinnstrukturen) generiert und methodisch nachgewiesen werden können. Dabei interessieren zunächst also nicht die subjektiven Beweggründe, sondern die objektiven Anhaltspunkte der Sinngenerierung, die bei einem Bild in der Polarität von Mitte und Rand ‚gesucht‘ werden können. So kann man sehr leicht das mittlere Feld (Nummer 5) und dessen Inhalt finden; aber auch eine vertikale (Nummer 2, 5 und 8) und eine horizontale Achse (Nummer 4, 5 und 6) und deren Inhalt sind leicht auszumachen. Auch die Diagonalen (Nummer 1, 5 und 9 sowie 3, 5 und 7) sind gut zu erkennen und für die Schnellerfassung des Dargestellten zu nutzen.
Erfahrung ist ein sozialer Prozess
Diese komplexen Prozesse von Erfahrung und Verstehen werden von der Objektiven Hermeneutik im Übrigen auch nicht primär als Individualprozesse gedacht, sondern als Sozialisationsprozesse, in die wir von klein auf eingebunden sind: etwa wenn wir als Kinder (geborgen) in die Mitte genommen wurden, und später in vielen sprachlichen Wendungen mehr oder weniger beiläufig mitbekommen haben, was Rand und Mitte bedeuten – oder schärfer ausgedrückt: inwiefern in der Polarität von Rand und Mitte Sinn generiert wird.
Prägnanz
Nun sei bezüglich Abbildung 9 noch – formal – auf die Prägnanz-Bildung eingegangen: Wenn man das Spiel der Formen betrachtet, findet man vor allem im Raster von drei mal drei Feldern sehr leicht die Mitte. Nämlich jenes Feld, das als einziges nicht den Rand berührt und von allen anderen Feldern umgeben ist. Auch die beiden gedachten Diagonalen laufen (genau) durch die Mitte. Auch jede Spalte und jede Zeile weist eine Mitte auf.
(Weiter zu: Die zentrale Aussage der Bildepistemik)