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Die ‚Professionalisierungsbedürftigkeit‘ der Pädagogik

(Davor: Drei ‚Funktionsfoci‘ der ‚revidierten Professionalisierungstheorie‘)


Der etwas weiter oben zitierte Funktionsfokus 1 zur „Herstellung und Aufrechterhaltung somato-psycho-sozialer Integrität“ entspricht („korrespondiert“) dem Aufgabenfeld professioneller Therapie und Pädagogik – also der zuvor dargelegten (Mikro‑)Ebene 1 des Prozesses der sozialen Konstitution des Individuums. Allerdings ist es auf den ersten Blick nicht ganz schlüssig, weswegen die Pädagogik gerade dieser Gruppe zugerechnet wird.

Bleibende Sehnsucht nach Zugehörigkeit; Blatt 24.09[.2012] als Exempel

Aber der Reihe nach: Aus der Zugehörigkeit zu einer ‚familialen ödipalen Triade‘ erwächst jedem Subjekt in seinem sozialen Konstitutionsprozess ein tiefes intuitives Verständnis von „diffusen Sozialbeziehungen“ wie auch eine bleibende Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Allerdings ist man in seiner Herkunftsfamilie immer das Kind oder ein ‚Junior‘, also ist es naheliegend, darüber hinaus zu streben und eine ‚eigene‘ Familie zu gründen. Jene drei Krisenkonstellationen, die ein Kind in der Familie antreiben, sich von der Herkunftsfamilie abzulösen, sind unter Blattanalysen & Methodik insbesondere in der Bildmontage zur Kontrastierung von ‚Familie‘ in Theorie und Praxis ausgeführt:

Dabei gelangt die reflexive Kinderzeichnung, Blatt 24.09[.2012] zur Thematik: ‚Ich und meine Familie‘, zur Ansicht. Dieses Blatt wird mit dem strukturtheoretischen Ansatz Oevermanns zur ‚ödipalen Triade‘ kontrastiert und rekonstruiert. Mit dieser Rekonstruktion wird deutlich, wie vielfältig die Krisenkonstellationen sind, die ein ‚Kind in der Schule‘ beschäftigen und motivieren können, neben den neuen Herausforderungen, die aus dem Umstand des Schulbesuchs resultieren. Das Bildganze wird geteilt, zwei sehr verschiedene Bildsegmente sind zu sehen (Abb. 13). An diesen divergenten Bildsegmenten wird sinnlich spürbar, wie sehr die Mikro-Ebene 1 – also die Qualität diffuser Sozialbeziehung als Zugehörigkeit zu ‚seiner‘ Familie – dem Kind im Kontrast zur (rollenhaften) Zugehörigkeit zur Schule präsent ist.

Rückschlüsse auf die Professionalisierungsbedürftigkeit pädagogischer Berufe

Für die Frage der Professionalisierungsbedürftigkeit pädagogischer Berufe ergibt sich daraus in exemplarischer Kürze (ausführlich in Oevermann 1996a, S. 141-182):

  • Gerade in den ersten Schuljahren müssen die Pädagoginnen die Erfahrungen und Kompetenzen aus der „naturwüchsigen sozialisatorischen Praxis in Familie, Verwandtschaft und Siedlungsgemeinschaft“ (Oevermann 1996a, S. 141), also das, was das Kind aus der Familie in die Schule mitbringt, respektieren, und das Kind es sich erschließen lassen (siehe These 1, 2, 3 und 4, Kapitel 1.10.1 bis 1.10.4). Gleichzeitig erfolgt das pädagogische Handeln im Kontrast zu dieser primären Sozialisation, denn Schule und professionelle Pädagogik sollen ja weit über die letztlich beschränkten Möglichkeiten dieser kleinen Gemeinschaften hinausführen, indem gesichertes Wissen sowie gesellschaftliche Normen vermittelt werden (Oevermann 1996a, S. 141-145).
  • Dabei müssen Lehrpersonen auch professionell darauf gefasst sein, dass das Kind Gefühle aus dem Familiengeschehen auf die Lehrperson aber auch auf Mitschüler*innen überträgt. Damit ist hier nur ein, für die Professionalisierung der pädagogischen Praxis wichtiger, aber meist wenig beachteter Faktor angedeutet, nämlich der therapeutische Anteil. Dieser therapeutische Anteil kann nicht bloß an Spezialist*innen wie Psycholog*innen delegiert werden, sondern muss in das pädagogische Professionsverständnis integriert werden, denn Pädagog*innen haben es (vor allem in der Grundschule) mit Kindern zu tun, deren Autonomie noch in Entwicklung ist (vgl. Oevermann 1996a, S. 146-151).
  • Ein weiteres unterschätztes Professionalitätserfordernis betrifft die pädagogische Diagnostik als Voraussetzung für pädagogische Intervention, denn wie sonst sollte man als Lehrer*in, aber auch in verschiedenen pädagogischen Leitungs- und Lenkungsfunktionen treffsicher intervenieren können. Dabei reicht es keinesfalls aus, Testverfahren (ähnlich einer Analysestraße für Autos zu deren periodischer Überprüfung hinsichtlich Fahrtauglichkeit und Sicherheit) zum Einsatz zu bringen, und dann das geprüfte Objekt zur Reparatur in die Werkstatt zu geben. Das wäre eine technisierte, also unzutreffende Vorstellung von sich bildenden Menschen, bei denen ihre gesamte Geschichte sowohl zur Ressource als auch zum Problem werden kann.
  • Der bekannte Gruppentherapeut und Schriftsteller Irvin D. Yalom gibt jungen Therapeut*innen dazu den folgenden Rat mit auf ihren Weg: „Vermeiden Sie eine Diagnose (außer für die Krankenversicherung)“ (Yalom 2002, S. 18-20). Der Zusatzhinweis (‚für die Krankenversicherung‘) besagt, dass die bürokratische Verwaltung eine Zuordnung des an sich offenen, vielfältigen, je individuierten – autonomen – therapeutischen Geschehens in Form standardisierter Begriffe braucht, dies trägt der ökonomischen Seite von Großorganisationen und deren Rationalität und Legitimationsprozeduren Rechnung.
  • Selbstbewusste Professionsverbände halten ihre Autonomie um der ‚Sache‘ willen – zur Unterstützung autonomer Bildung in einem autonomen Arbeitsbündnis mit den Sich-Bildenden – hoch und organisieren sich deshalb. Die Organisiertheit der Lehrer*innen ist doppelt gefordert und notwendig: einerseits für die Absicherung von autonomen Arbeitsbündnissen mit jedem ihrer Schüler*innen (bei jüngeren auch mit deren Eltern) wie auch mit den einzelnen Schulklassen, andererseits zum Schutz vor der Vereinnahmung durch Verwaltung und Politik, denen ja zutreffende (diagnostische) Argumente für den Ressourcenbedarf zum Beispiel für Settings zur Förderung geliefert werden müssen, denen aber ein Zugriff auf die pädagogische Autonomie und die Autonomie von Bildung – professionell – verwehrt werden muss.
  • Pädagogische (wie auch therapeutische) Professionalität besteht hinsichtlich der Diagnostik gerade darin, einerseits Verständnis für die immer konkrete Genese und die Motivierung eines Mangels gemeinsam mit dem Klienten so aufzubauen, dass das selbstständige Lösungspotential der jeweiligen Person oder der betreffenden Gemeinschaft (etwa der Schulklasse) in einem autonomen Arbeitsbündnis mit dem Professionellen (Lehrer*in, Arzt*Ärztin, Therapeut*in) – als Hilfe zur Selbsthilfe möglichst gut fundiert wird. Andererseits soll eine Pädagogin bzw. ein Pädagoge auch einen Überblick über bewährte Verfahren und Materialien der Unterstützung haben, um diese allenfalls rasch zugänglich zu machen. In diesem Zusammenhang sind auch Kenntnisse über die Leistungen und die Grenzen von standardisierten Verfahren wichtig.
  • Sowohl der Grundsatz der Hilfe zur Selbsthilfe als auch die Betonung der Autonomie des Arbeitsbündnisses sind faktisch nicht nur in totalitären Gesellschaften gefährdet, denn es gibt auch in demokratisch-rechtsstaatlichen Gesellschaften immer wieder Tendenzen der Deprofessionalisierung, die die politische Vereinnahmung der Bereiche Gesundheit, Bildung, aber auch Recht, sowie Wissenschaft und Kunst betreffen. Eine Facette dieser Tendenz kann in der übermäßigen Betonung betriebswirtschaftlicher und bürokratischer sowie (informations-)technischer Aspekte gegenüber den je persönlichen und sachlichen Fragen und der diesbezüglichen Professionalität und Autonomie gesehen werden.
  • Gegenüber den genannten Tendenzen zur Deprofessionalisierung mag das Postulat, das in These 13 formuliert ist, anachronistisch anmuten, wonach die lebendige Erfahrung gegenüber Standardisierung resistent sei. Jedoch die hier in der Studie gesicherten bzw. untersuchten Blätter der Grundschülerin Erna (siehe die Conclusio, Kapitel 5) sowie das naturwüchsig professionelle pädagogische Konzept ‚Kompetenzmappe‘ (siehe: Selbstbewusste Reflexion als offener ‚Auftrag‘ an dieser Schule bzw. Kapitel 4.11.2 und 4.11.3) belegen diese Resistenz gegenüber Standardisierung. So wird in den Medien wie auch in der politischen Bürokratie des Schulwesens zu Vergleichstestungen wie PISA viel Aufhebens gemacht, dies steht in krassem Gegensatz zur Bedeutung von internationalen wie auch nationalen Testungen für die laufende Arbeit in den Klassenzimmern.

Forschen bedeutet das Simulieren von Krisen

Hier sind nur einige Punkte zur Professionalisierungsdebatte – gestützt auf Oevermanns Theorie der Lebenspraxis – angeführt worden. Zum Abschluss dieses Exkurses sei noch einmal auf die Mühen wie auch die notwendige Offenheit von Forschung und Bildung hingewiesen:

Forschen bedeutet das Simulieren von Krisen. Es ist deshalb das Gegenteil von Routine, obwohl dazu gehört, daß die hartnäckige Verfolgung von Problemstellungen es erforderlich macht, lange Durststrecken routinisierter Operationen in der Datenerhebung und -auswertung auf sich zu nehmen. […] Forschen, das will ich damit sagen, bedeutet also wesentlich das Bewältigen von Krisen. Deshalb eröffnet es immer einen Bildungsprozeß, ganz wie Humboldt es gesehen hat. Bildung unterscheidet sich nun aber vom bloßen Lernen genau in dieser Hinsicht, daß sie im Kern in einem Prozeß der Krisenbewältigung besteht und deshalb auch nur sehr begrenzt standardisierbar ist (Oevermann 2016, S. 112).