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Drei Ebenen der sozialen Zugehörigkeit des Menschen

(Davor: Aufbau des Theoriehorizonts)


Mit dem folgenden Textausschnitt soll ein Überblick über die Architektur der soziologischen Sozialisationstheorie (Oevermann 2004, 2009 und 2016) gestiftet werden:

[Ebene 1:] Jedes Individuum ist in seiner sozialen Konstitution auf die Zugehörigkeit zu einer ‚kleinen Gemeinschaft‘ nach dem Muster von Familie angewiesen.

[Ebene 2:] Aber dieses Bedingungsverhältnis seinerseits bedarf der Einbettung in die Makro-Vergemeinschaftung des jeweiligen souveränen, d.h. der Rechtssetzung fähigen Herrschaftsverbandes,

[Ebene 3:] dessen Legitimation seinerseits, auf welchen Stufen der universalhistorischen Elaboration auch immer, auf den ‚universe of discourse‘ verwiesen ist, in dem die Fragen nach Herkunft und Zukunft der Gattung zu behandeln sind (Oevermann 2009, S. 53f. [drei Ebenen und Gliederung eingefügt, R.S.]).

Der Mensch braucht Zugehörigkeit in allen Lebensphasen

Die Thematisierung des Angewiesen-Seins des Menschen in seiner sozialen Entwicklung auf drei im Grunde sehrunterschiedliche Ebenen der Zugehörigkeit zeichnet nicht nur Oevermanns Sozialisationstheorie, sondern auch die Architektur der „klinischen Soziologie“ (Oevermann 2002) sowie der Methodologie der Objektiven Hermeneutik aus (siehe vor allem Oevermann 2000, 2002, 2013 und 2016), was hier aber nur gestreift wird.

Die gerade knapp skizzierten drei Ebenen sind in mehrfacher Hinsicht sehr unterschiedlich, sodass es nicht verwundert, dass verschiedene Denk- und Analyseweisen sowie Theorietraditionen auf sie in sehr unterschiedlicher Weise zugreifen, und auch unterschiedliche Schlüsse daraus ziehen sowie unterschiedliche Theorien darauf gründen.

So ist das Angewiesen-Sein eines Neugeborenen auf die Ebene 1, die hier als ‚kleine Gemeinschaft‘ nach dem Muster der Familie charakterisiert wurde, von völlig anderer, offensichtlich überlebenswichtiger Dringlichkeit als bei einem noch jungen Erwachsenen, der sich aus seiner Herkunftsfamilie (oder Herkunftsgemeinschaft) schon weitgehend gelöst hat, und bereits daran denkt, selbst eine neue Gemeinschaft nach dem Muster der Familie zu gründen, die hier als Ebene 1 bezeichnet wird.

Die (Mikro )Ebene 1: eine kleine Gemeinschaft

Vor allem wegen eines fortwährenden, alterungsbedingten und biografischen Perspektivenwechsels der unmittelbar Beteiligten dieser ‚kleinen Gemeinschaft‘ benötigt gerade die (Mikro‑)Ebene 1 eine Strukturbestimmung, die ebenso hinsichtlich der beiden anderen Ebenen wichtig ist, auch wenn die empfundene Dringlichkeit weniger alltäglich sein mag:

Die (Makro-)Ebene 2: ein Herrschaftsverband

Die Auseinandersetzung mit der (Makro-)Ebene 2 (die die Zugehörigkeit zu einem Herrschaftsverband, der der Rechtssetzung fähig ist, betrifft) mag vielleicht erst im Konfliktfall bewusst werden, wenn nach Regeln gesucht wird, nach denen der Konflikt gelöst oder zumindest entschärft werden kann. So ein Klärungsfall wird weiter unten im Zusammenhang mit konkreten Besuchsregelungen für Kinder in ‚unvollständigen‘ oder Patchworkfamilien kurz andiskutiert.

Die (Meta-)Ebene 3: Herkunfts- und Zukunftsfragen der Gattung Mensch

Auch die (Meta-)Ebene 3 wird bezogen auf Kinder beispielhaft verdeutlicht, insofern Kinder unweigerlich Herkunfts- und Zukunftsfragen der Gattung aufwerfen.

Von allen drei strukturellen Ebenen wird dabei angenommen, dass sie nicht nur eine abstrakte latente Mikro-, Makro- oder Meta-Seite haben, sondern auch, dass diese wegen ihrer Latenz kaum bewussten Seiten bei reflexiver (oder rekonstruktiver) Aufmerksamkeit in der Praxis konkret thematisiert werden können, da sie in den jeweiligen Alltag hineinwirken, und somit grundsätzlich auch der Reflexion zugänglich sind. Mit diesen Hinweisen wird auch um Verständnis dafür geworben, dass der aktuelle Exkurs eine gewisse Breite annimmt, sodass alle drei Ebenen (wenn auch in entsprechender Knappheit) ausgeführt werden. Denn alle drei Ebenen sind maßgeblich für Bildungsprozesse des Individuums wie auch für die wissenschaftliche Analyse dieser Bildungsprozesse mittels der Objektiven Hermeneutik. Diese Methodologie betont, sich (und ihre Architektur) an den Analysegegenstand und die drei Ebenen seiner Konstitution ‚anzuschmiegen‘.


(Weiter zu: Ebene 1: Die familiale Triade – Zwei Prototypen ‚diffuser Sozialbeziehungen‘)