(Davor: Eine soziologische und analytische Sicht auf ‚immer schon vorgängige Sozialität‘)
Die ‚revidierte Professionalisierungstheorie‘ (Oevermann 1996a, 2000c, 2008 und 2013a, womit nur einige Quellen genannt sind) ist eine jener Strukturtheorien, die Oevermann auch unter Nutzung der eben dargelegten – auf die Sozialisationsprozesse des Individuums bezogenen – Forschung mit Hilfe der Methodologie der Objektiven Hermeneutik entwickelt hat. Dabei ist die krisentheoretische Konzeptualisierung von Lebenspraxis zentral, wie Oevermann in seiner ‚Abschiedsvorlesung‘ mit Blick auf sein Gesamtwerk hervorhebt:
Bezogen auf die krisentheoretische Konzeptualisierung von Lebenspraxis […] haben wir die Professionalisierungstheorie revidiert und Professionen als diejenigen Berufspraxen bestimmt, in denen stellvertretend für die primäre Lebenspraxis, die sich als solche in ihrer Autonomie der Krisenbewältigung konstituiert, Krisen auf der Basis einer Expertise per kodifiziertem Wissen bewältigt werden (Oevermann 2016, S. 110).
Die überaus anspruchsvollen Aufgaben von Professionen im Verständnis dieser Professionalisierungstheorie werden von Oevermann hinsichtlich ihrer „Professionalisierungsbedürftigkeit“ (Oevermann 1996a, S. 91, 98, 102 und 141-182 sowie Oevermann 2008, S. 61 und 67) genauer bestimmt.
Begründung von „Professionalisierungsbedürftigkeit“
Diese Professionalisierungsbedürftigkeit ergibt sich aus den strukturell bedingten Aufgabenstellungen, also ihrem jeweiligen Funktionsfokus. Diese (professionalisierungsbedürftigen) Professionen benötigen demnach – um ihren Aufgaben gerecht zu werden – sowohl interventionspraktische alsauch wissenschaftliche Expertise. Diese Kombination von recht unterschiedlichen Expertisen ist in der Ausübung ihrer Profession (als Lehrer*in, Arzt*Ärztin, Sozialarbeiter*in, Psycholog*in usw.) laufend vor neue Herausforderungen gestellt. Diese Herausforderungen liegen sowohl im Binnenverhältnis zwischen Klient*innen und deren Helfer*innen begründet, als auch im Außenverhältnis, denn es gibt viele Faktoren, die das Zustandekommen und die Durchführung eines autonomen Arbeitsbündnisses in Frage stellen können. Insofern braucht das Verständnis der Professionalisierungsbedürftigkeit dieses Arbeitsbündnisses eine robuste Basis, die die Konzentration auf die Kernaufgabe dieser Professionen ermöglicht. Diese besteht darin, „stellvertretend für die primäre Lebenspraxis“ deren „Krisen“ so zu „bewältigen“, dass die Klient*innen wieder zu ihrer Autonomie finden.
Was hier noch sehr abstrakt, im Metablick auf Professionen (im Allgemeinen) formuliert ist, wird aus systematischen Gründen, um nämlich aufzuzeigen, wie weitläufig die Theoriearchitektur Ulrich Oevermanns elaboriert ist, hinsichtlich dreier Funktionsfoci (also entlang ihrer grundlegenden Kernaufgabe, nämlich der stellvertretenden Krisenbewältigung) so ausdifferenziert, dass der Zusammenhang zu den soeben in diesem EXKURS 3 abgehandelten drei Ebenen der sozialen Konstitution des Individuums deutlich wird:
Diesen drei Ebenen korrespondieren im übrigen genau die drei Funktionsfoci der mit stellvertretender Krisenbewältigung beschäftigten Professionen: [1.] Herstellung und Aufrechterhaltung somato-psycho-sozialer Integrität in Therapie und Pädagogik, [2.] der Integrität des Rechts in der Rechtspflege und [3.] der Geltung von Wissen und Kunst gemessen an universalen Geltungsmaßstäben (Oevermann 2009, S. 54 [Nummerierung eingefügt, R.S.]).
„Stellvertretende Krisenbewältigung“ erfordert hohe Professionalität
Professionen haben demnach die Funktion (bzw. stellen sich der Herausforderung), ihren Klient*innen bei der Bewältigung ihrer Krisen behilflich zu sein. Die Herausforderungen sieht Oevermann in den Bereichen 1. Gesundheit und Bildung; 2. Recht sowie 3. Wissenschaft und Kunst, sofern die jeweiligen Subjekte in ihrer Lebenspraxis und Autonomie zu scheitern drohen. Nun komme ich zur genaueren Betrachtung der jeweiligen Aufgaben (insbesondere der Pädagogik), die entlang der drei Ebenen der sozialen Konstitution des Subjekts (als Funktionsfoci von Professionen) ausdifferenziert sind. Dabei darf aber der folgende Hinweis nicht fehlen, dass die Funktionsfoci sowohl in einem polaren Gegensatz stehen, als auch eine einander bedingende – also dialektische – Einheit darstellen:
Alle drei Foci stehen in einem polaren Gegensatzverhältnis und damit in einem Wechselverhältnis zueinander. Man kann nicht professionalisiert bezogen auf eine Problemstellung eines Focus handeln, ohne im Hintergrund die polar gegensätzlichen Belange der beiden anderen Foci zu berücksichtigen. Das heißt: In der Praxis ist das professionalisierte Handeln immer eine Zusammensetzung von Problemlösungen bezüglich aller drei Foci, aber dennoch ist in jeder konkreten professionalisierten Praxis einer dieser drei Foci dominant (Oevermann 1996a, S. 95).
Diesen Hinweis auf die Wechselwirkung aller drei Foci, zwischen denen die revidierte Professionalisierungstheorie unterscheidet, stellt ein weiteres Argument für die hohen Anforderungen der ‚professionalisierungsbedürftigen‘ Berufsgruppen dar.
(Weiter zu: Die ‚Professionalisierungsbedürftigkeit‘ der Pädagogik)