(Davor: Drei Ebenen der sozialen Zugehörigkeit des Menschen)
Die „Strukturgesetzlichkeit“ bzw. „Strukturdynamik“ der Dreiheit („Triade“) Vater – Mutter – Kind entsteht Oevermann zu Folge in den drei Zweiheiten („Dyaden“): Vater – Mutter, Mutter – Kind und Vater – Kind. Nur in diesen drei Dyaden, also innerhalb der „ödipalen Triade“, finden sich „zwei Prototypen“ „diffuser“, das heißt „nicht rollenförmiger Sozialbeziehung“.
Im Zentrum einer spezifisch soziologischen Sozialisationstheorie sehe ich das Modell der Strukturlogik und -dynamik der ödipalen Triade. Sie setzt sich aus drei Dyaden zusammen, die ihrerseits die einzigen zwei Prototypen für die Struktur diffuser, d.h. nicht rollenförmiger Sozialbeziehungen darstellen (Oevermann 2004, S. 173).
Als ‚spezifisch soziologisch‘ wird diese Sozialisationstheorie bezeichnet, weil ihre Erklärungen auf soziale Prozesse zurückgeführt werden, und zum Beispiel nicht auf psychische Merkmale (psychologisch) oder auf Ideen (philosophisch) verwiesen wird. Das Verständnis von ‚soziologisch‘ wird weiter unten (unter Ebene 2) noch ausdifferenziert.
Nun zur Strukturcharakteristik der zwei Prototypen diffuser Sozialbeziehung:
Während für die Gattenbeziehung mit Bezug auf die sexuelle Reproduktionsfunktion die wechselseitige sexuelle Bindung bzw. libidinöse Reziprozität, also der sexuelle Charakter ihrer affektiven Solidarität konstitutiv ist, gilt für die Eltern-Kind-Beziehungen gerade umgekehrt im Sinne des Inzesttabus, dass die sexuelle Auslegung der affektiven Bindung strengstens verboten ist und gemieden werden muss (Oevermann 2004, S. 172).
Innerhalb von ‚diffusen Sozialbeziehungen‘ und innerhalb der ‚ödipalen Triade‘ werden zwei Beziehungstypen mit hoher ‚Affektivität‘ unterschieden: Einerseits die ‚Gattenbeziehung‘, für die eine „wechselseitige sexuelle Bindung bzw. Reziprozität […] konstitutiv ist“, andererseits die ‚Eltern-Kind-Beziehung‘, für die das ‚Inzesttabu‘ gilt, bei der also die „sexuelle Auslegung der affektiven Bindung strengstens verboten ist“.
Zum Unterschied zwischen rollenförmiger und diffuser Sozialbeziehung
Im Gegensatz zu spezifischen, rollenförmigen Sozialbeziehungen, die dadurch geprägt sind, dass in ihnen die Beweislast derjenige trägt, der dem in den Rollendefinitionen spezifizierten Zuständigkeitskatalog ein neues Thema hinzufügen will, muss in diffusen Sozialbeziehungen derjenige, der ein Thema nicht berühren oder ausschließen will, dies eigens begründen, weil grundsätzlich alles thematisierbar ist. Diffuse Sozialbeziehungen sind deshalb Beziehungen zwischen ganzen Menschen, nicht zwischen Rollenträgern oder Vertragspartnern (Oevermann 2004, S. 172).
In einer diffusen Sozialbeziehung ist zwischen ‚ganzen Menschen‘ demnach alles thematisierbar, also kein Thema von vornherein ausgeschlossen. Demgegenüber werden in Rollensystemen ‚Krisen der Unbestimmtheit‘ (also des Diffusen) möglichst vermieden (vgl. Oevermann 2016, S. 101f.). ‚Rollensysteme‘ funktionieren in vorhersehbarer Weise. Große, arbeitsteilige Organisationen und Bürokratien sind als Rollensysteme höchst effektiv und ökonomisch, solange sie in keine Krisensituation geraten; dann reichen (und greifen) die festgelegten Routinen nicht mehr.
Diffuse Sozialbeziehungen sind idealtypisch ein Gegenmodell zu rollenförmigen Sozialbeziehungen. Rollen erlangten historisch wegen ihrer Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit eine immense Bedeutung für die Effizienz moderner Produktion, Ökonomie und Herrschaft. Rollentheorien erlangten auch einen hohen Stellenwert in vielen Wissenschaftsdomänen, etwa in der Familien- und der Sozialisationssoziologie. Diesbezüglich forciert Oevermann eine strukturanalytische und strukturtheoretische Differenz und Kritik, die auf dem Paradigma von ‚Krise und Routine‘ beruht. Für entsprechend wichtig hält Oevermann die theoretische Bestimmung der strukturellen Typik der Eltern-Kind-Beziehung und der Gattenbeziehung. Die Vollzüge dieser diffusen Sozialbeziehungen charakterisiert Oevermann krisentheoretisch als von Beginn an
krisenhaft, ihr Vollzug ist nicht das Ergebnis von Routinen und kann es auch nicht sein. Das zu Beginn durch genetische und soziokulturelle Rekombination hergestellte Neue ist ein [sic!] initiale Konstellation einer je individuierenden Entwicklung, in deren Verlauf diese Konstellation sich in eine offene Zukunft, je Neues erzeugend, nur bedingt vorhersehbar entfaltet.
Das ist vor allem auch dadurch bedingt und gesichert, daß sich die Praxis in den genannten beiden Typen von Dyaden, Eltern-Kind-Beziehung und Gatten-Beziehung, eben nicht, wie es die gesamte rollentheoretisch orientierte Familiensoziologie gewissermaßen blind vorsieht, in vorgegebenen sozialen Rollen vollzieht, sondern als Beziehungen zwischen ganzen Menschen einer ganz anderen sozialen Ordnung angehört. Rollen sind Routinen des konkreten Handelns, sie entlasten von Krisen der Unbestimmtheit. Aber als Rollensysteme funktionieren Familien, die manifesten Gehäuse der ödipalen Triade, erst und nur, wenn sie als lebendige Praxis zerstört sind, wenn es nur noch um Fragen des Unterhalts, etc. geht (Oevermann 2016, S. 100f.).
Demnach beruhen die Herausforderungen in Beziehungen des Typs diffuse Sozialbeziehung, oder vereinfacht gesagt, die Beziehungen in funktionierenden Familien, darauf, individuelle Lösungen für jene Unterschiede zu erfinden, die von vornherein da sind, also vor allem durch die unterschiedlichen Herkunftsmilieus des Elternpaares sowie meist auch durch die heranwachsenden Kinder gegeben sind. Diese Unterschiede zeigen sich dann auch in der einzigartigen ‚Rekombination‘ der Gene bei der Zeugung eines Kindes, was wiederum zu neuen Herausforderungen führt. Von ‚Krise‘ und nicht von ‚Routine‘ ist in diesem Zusammenhang auszugehen, da es für die jeweilige (neue) Kombination (der Milieus bzw. Gene) keine zutreffende ‚Routine‘ in der ‚lebendigen Praxis‘ geben kann. Festgelegte Rollen für diese Praxis würden der Lebenspraxis ihre Lebendigkeit in Form der Krisenbewältigung absprechen, und an die Stelle der Lebendigkeit würde durch Regeln vorgegebene Rollenförmigkeit treten. Damit wäre die Beziehung in ihrer Lebendigkeit (nach dem Typ ödipale Triade) gescheitert. Erst dann ist es konsequent, dass Paare mit Kindern (nach der Trennung) Vereinbarungen nach dem Typ rollenförmiger Verträge einführen, etwa für Unterhalt und Betreuungszeiten, die entsprechend einem Vertrag (rollenförmig exakt) eingehalten werden – was allerdings auch dieses Scheitern der (diffusen) Beziehung eingesteht und demonstriert.
Weiter unten (in Kapitel 2.5.4) wird aufgezeigt, welches Modernisierungspotential die Ausarbeitung und Nutzung des Rollenbegriffs für die Gesellschaft (in Unterscheidung zu Gemeinschaft), die Wirtschaft und die Produktionsweise gebracht hat. Dabei wird auch herausgearbeitet, welche Konsequenzen eine strukturanalytische Exaktheit in der Unterscheidung rollenförmiger und diffuser Sozialbeziehungen im Bereich der entsprechenden Wissenschaftsdomänen der Sozialpsychologie, der Soziologie sowie (darauf aufbauend) der Bildungswissenschaft nahelegen, was an den Begriffen der Gemeinschaft (beruhend auf diffusen Sozialbeziehungen) in Unterscheidung zu Gesellschaft (beruhend auf rollenförmigen Sozialbeziehungen) festgemacht wird.
Hier wird nun die Struktur der diffusen Sozialbeziehung genauer bestimmt.
Die vier grundlegenden Strukturbedingungen diffuser Sozialbeziehungen
Für die diffuse Sozialbeziehung sind konstitutiv 1. Körperlichkeit, ebenso wie 2. bedingungsloses Vertrauen sowie 3. Unbefristetheit und 4. generalisierte Affektbindung:
Für die Eltern-Kind-Beziehungen wie die Gattenbeziehungen gilt gleichermaßen, dass ihr konkretes Personal nicht wie in Rollenbeziehungen substituierbar ist, ohne dass sich die Beziehungen als solche auflösen oder grundlegend verändern. Diese Nicht-Substituierbarkeit ergibt sich aus den vier grundlegenden Strukturbedingungen, wonach diese diffusen Sozialbeziehungen [1.] auf einer für sie konstitutiven Körperbasis aufruhen, [2.] durch eine nicht formalisierbare Form der bedingungslosen Vertrauensbildung fundiert sind, [3.] grundsätzlich lebenslang bzw. unbefristet gelten, also nicht kündbar sind und [4.] durch eine generalisierte Affektbindung geprägt sind (Oevermann 2004, S. 172f. [Nummerierung eingefügt von R.S.]).
Die (vier) „grundlegenden Strukturbedingungen diffuser Sozialbeziehungen“ sind nun mehrfach hervorgehoben, auch um die Spezifik des Strukturverständnisses vor Augen zu führen, das nicht nur im Lauf der Jahrhunderte kulturelle Ausprägungen, sondern auch in jedem Einzelfall eine besondere konkrete Ausformung erfährt, auch wenn sie als ‚grundlegende‘ Struktur stabil und so auch wiedererkennbar bleibt. Einwände gegenüber den hervorgehobenen grundlegenden Strukturen der ‚familialen ödipalen Triade‘ kommen oft mit Hinweisen auf die Häufigkeit von Scheidungen und sogenannten Patchwork-Familien. Doch trotz vielfältiger familiärer Lebensformen werden Trennungen und vor allem Scheidungen häufig als ‚Scheitern‘ der ‚grundsätzlich lebenslang und unbefristet‘ eingegangenen Beziehungen erlebt. Vor allem wenn das Paar gemeinsame Kinder hat, ergeben sich Folgeprobleme der Trennung, die ‚geregelt‘ werden müssen, auch wenn sie dadurch nicht völlig gelöst werden können.
Die Wirkung der genannten ‚grundlegenden‘ Strukturen wird hier am Beispiel der Folgeprobleme von Trennungen von Paaren, die gemeinsame Kinder haben, verdeutlicht. Denn da wird die Frage der Aufrechterhaltung der Beziehung zwischen den Kindern und ihren leiblichen Eltern zu einer alltagspraktischen Herausforderung, die nach Möglichkeit einvernehmlich geregelt werden soll, worauf mittlerweile auch das Familienrecht drängt. Diese Problemstellung scheint auf den genannten „grundlegenden Strukturbedingungen diffuser Sozialbeziehungen“ zu beruhen, wonach sich die Eltern-Kind-Beziehung bzw. Kind-Eltern-Beziehung als „nicht substituierbar“ erweisen und als solche geachtet werden müssen.
Die knappe Bezugnahme auf Beispiele aus dem Alltag sollte veranschaulichen, wie die tiefliegenden strukturalen Fragen im praktischen LebenkleinerGemeinschaften (Ebene 1), aber auch in der modernen Rechtsgestaltung (Ebene 2) im alltäglichen Leben ‚auftauchen‘ können.
(Weiter zu: Ebene 2: Zweckfreie Gemeinschaften als soziologischer Grundbegriff)