(Davor: Ebene 1: Die familiale Triade – Zwei Prototypen ‚diffuser Sozialbeziehungen‘)
Die Objektive Hermeneutik geht von einer soziologischen Sozialisationstheorie aus, die sich in vieler Hinsicht von Sozialisationsvorstellungen eines wissenschaftlichen Mainstreams unterscheidet. Da besagter Mainstream weit über die Soziologie oder die Sozialpsychologie hinaus verbreitet ist, seien einige Besonderheiten und Abgrenzungen des Sozialisationsansatzes der Objektiven Hermeneutik hervorgehoben:
‚Gemeinschaft‘ oder ‚Vergemeinschaftung‘ als soziologischen Grundbegriff
Als soziologischen Grundbegriff (für Soziologie und Sozialisation) verwendet Oevermann nicht länger den (verbreiteten) Begriff der ‚Gesellschaft‘ oder ‚gesellschaftlich‘ – sondern ‚Gemeinschaft‘ oder ‚Vergemeinschaftung‘. Dadurch wird eine Gegenüberstellung von einem (in jener Denkweise schwachen) Individuum und einer (dort als übermächtig gedachten) Gesellschaft vermieden (siehe Oevermann 2016, S. 106-110).
Vielmehr rückt der wechselseitige Prozess von Beziehungen in den Vordergrund, in welchem sich Gemeinschaften auf verschiedenen Ebenen in respektvoller, reziproker Anerkennung der beteiligten Subjekte (Individuen und Gemeinschaften) in ihrer Autonomie und Souveränität entwickeln.
Die Mitglieder der Gemeinschaften werden als ganze Menschen (also nicht als bloße Rollenträger) in ihrer Autonomie angesehen. Analog dazu werden die Gemeinschaften (wie Familien, Gemeinden, Organisationen, Staaten) in ihrer Souveränität anerkannt.
Dem liegt ein soziologisches Modell zweckfreier Beziehungen ‚ganzer‘ Menschen und ihrer Gemeinschaften sowie von zweckfreier Kultur zugrunde, das ausdrücklich den Sozialisationsprozess von ‚unten‘ – also beginnend in den ‚kleinen Gemeinschaften‘ – konstitutionstheoretisch konzipiert:
Daß die familialen Beziehungen nicht als Rollenbeziehungen, sondern als Beziehungen zwischen ganzen Menschen zu gelten haben, hat Weiterungen für die Makrosoziologie. Denn diffuse Sozialbeziehungen, also Beziehungen zwischen ganzen Menschen, gehören der Sozialform der Gemeinschaft oder der Vergemeinschaftung an. Gemeinschaften sind, allgemein gesprochen, Kollektive zwischen ganzen Menschen, wohingegen Gesellschaften Kollektive von Rollenträgern, Vertragspartnern, und Marktteilnehmern sind. Das wiederum hat für viele heutige Soziologen skandalöse theoretische Folgen. Denn so wie eben bestimmt, liegen Gemeinschaft und Gesellschaft nicht auf derselben strukturanalytischen Ebene. Gesellschaft kann aber nur Realabstraktion von Gemeinschaft sein, nicht umgekehrt Gemeinschaft von Gesellschaft (Oevermann 2016, S. 106).
Dieses Modell ist konstitutionslogisch bzw. konstitutionstheoretisch durchdacht und rekonstruktionslogisch – also empirisch – durch die Objektive Hermeneutik fundiert. Es ist also keine bloße Idealvorstellung oder Idee, wohl aber eine Abstraktion in Form einer Generalisierung konkreter Rekonstruktionserkenntnisse (siehe Kapitel 6.9: ‚Sequenzanalyse‘).
Zweckfreie Gemeinschaftenals Grundlage der Sozialität
Die Betonung der Bedeutung von zweckfreien, souveränen Gemeinschaften zeichnet also die Objektive Hermeneutik aus. Sie ist aber nicht als eine normative Setzung zu verstehen, sondern als Ergebnis von Analysen, die tief in die Entstehungsprozesse der Sozialität reichen. Allerdings kann man die Arbeit mit diesem tiefgreifenden Ansatz als methodologische Weichenstellung (und insofern also doch auch als normativ) auffassen. Denn mit ihrer Art, durch die Rekonstruktion von Ausdrucksgestalten methodisch in die sequentielle Genese sozialer Praxis einzutauchen, treten sowohl Möglichkeiten der jeweiligen Situation als auch die in dieser Situation getroffenen und vollzogenen faktischen Entscheidungen – also Spielräume neben Determinierungen – ins analytische Bewusstsein (vgl. Oevermann 2002 sowie die Thesen in Kapitel 1.10 und 1.11).
In diesem Modell von zweckfreien Gemeinschaften als Grundlage der Sozialität und Grundbegriff der Soziologie ist ein hoher theoretischer Stellenwert von souveränen Gemeinschaften (wie auch von letztlich autonomen Individuen)ausgewiesen. Dieses Verständnis von Soziologie, Sozialisation und Bildung trägt zum Profil der Objektiven Hermeneutik, zu ihren Leistungen und Abgrenzungen bei.
(Weiter zu: Ebene 3: Reziproke Sozialität und ihre Bindungskraft – Universeller Diskurs)