Zur herausragenden Stellung der Sprache – vor allem in Form der Schriftsprache – im Protokoll-, Erkenntnis- und Reflexionsprozess, aber auch für die ‚Erzeugung von Wirklichkeit‘ möchte ich auf folgende Aussagen Oevermanns im Detail eingehen. Für die anschließende Aufbereitung in zwölf Argumente sind durch entsprechende Zahlen Anhaltspunkte [1.] bis [12.] in das Zitat eingefügt:
Ganz offensichtlich ist die Schriftsprache nicht nur [1.] ein geeignetes System der Notation mündlicher Sprache, sondern [2.] ein algorithmisch geregeltes Gebilde, in dem [3.] die Sprache in ihrer Potentialität überhaupt erst zu sich selbst kommt. In jener Potentialität nämlich, die [4.] die Sprache zum eigenlogischen Medium der Kritik und des Urteilens dadurch macht, daß sie [5.] Wirklichkeit nicht nur wie ein Aufzeichnungsgerät protokolliert, sondern [6.] zugleich interpretiert und erschließt […]. [7.] Mit Hilfe der Schriftsprache machen wir uns vom Hier und Jetzt der mündlichen Rede vor allem dadurch unabhängig, daß wir [8.] die Bedeutung des Gesagten aus dem konkreten außersprachlichen Kontext der Rede herausheben, kontextunabhängig gewissermaßen verewigen. [9.] Schriftsprachliche Ausdrucksgestalten sind in dieser Hinsicht autonome, selbstreferentielle Gebilde, nicht nur Gebilde, [10.] die Selbstreflexion ermöglichen, sondern [11.] die Selbstreflexion unabhängig vom praktischen Vollzug je schon objektivieren. [12.] Die Kraft der Sprache, Wirklichkeit zu erzeugen, wird durch Schriftlichkeit in einem unglaublichen Maße potenziert (Oevermann 2016, S. 82f. [Nummerierung eingefügt von R.S.]).
Die folgende, in 12 Argumenten pointierte Aufbereitung des Zitats trägt durch die Übernahme zahlreicher im Zitat verwendeter originaler Formulierungen dem Umstand Rechnung, dass hier ein wesentlicher Aspekt eines Ansatzes, der sich als eigenständiges methodologisches Paradigma versteht, in seinem terminologischen Selbstverständnis wiedergegeben wird.
Wesentliche Struktureigenschaften von Schriftsprache sind demnach:
- Schriftsprache ist ein geeignetes System der Notation mündlicher Sprache. Das ist uns (wenn wir die Schriftsprache beherrschen) völlig selbstverständlich. Wir können aufschreiben, was gerade gesagt wird, und umgekehrt aussprechen, was geschrieben steht.
- Schriftsprache ist auch ein algorithmisch geregeltes Gebilde. Dies ist uns (die wir der gesprochenen und geschriebenen Sprache mächtig sind) zwar auch selbstverständlich, allerdings sind die besagten Regeln beim Sprechen vor allem intuitiv in Verwendung. Das lässt sich am ehesten bei Kindern beobachten: Sie sprechen und verstehen bereits sinnvolle Sätze (oder Satzellipsen), ohne die algorithmischen Regeln, die den Sinn generieren, zu kennen. Beim Schreiben treten – vor allem wenn man um Korrektheit bemüht ist – diese Regeln stärker ins Bewusstsein, etwa dann, wenn man in einem Regelwerk (wie dem Duden) nachschlägt.
- Erst im Wege dieser Algorithmik, also durch diese meist im Hintergrund und intuitiv mitlaufende, an der Bedeutungserzeugung mitwirkende Regelhaftigkeit (um nicht Regelwerk zu sagen, denn das klänge zu normativ statt generativ) kommt Sprache in ihrer Potentialität zu sich selbst.Die Schriftsprache kann für sehr viele Zwecke sowie sehr nuanciert zum Einsatz kommen.
- In dieser algorithmischen, intuitiven wie auch komplexen Eigenlogik also kann Sprache – der Möglichkeit nach – zum Medium der Kritik und des Urteilens werden.
- Und zwar dadurch, dass Schriftsprache einerseits Wirklichkeit wie ein Aufzeichnungsgerät protokolliert.
- Andererseits interpretiert und erschließt Schriftsprache die protokollierte Wirklichkeitzugleich.
- So werden wir mit Hilfe der Schriftsprache vom Hier und Jetzt der mündlichen Rede unabhängig.
- (Denn) die Bedeutung des Gesagten kann aus dem konkreten außersprachlichen Kontext der Rede herausgehoben und in Bibliotheken, Datenbanken und sonstigen Sammlungen als (kodifiziertes) Wissen aufbewahrt und zugänglich werden, also kontextunabhängig gewissermaßen verewigt werden.
- Schriftsprachliche Ausdrucksgestalten sind in dieser Hinsicht autonome, selbstreferentielle Gebilde.
- Die Schriftsprache und ihre gerade angeführten Struktureigenschaften ermöglichen also auch Selbstreflexion und Selbsterkenntnis.
- Darüber hinaus wird Selbstreflexion, sobald sie schriftlich aufgezeichnet ist, jeweils schon objektiviert, also unabhängig von der Präsenz im Moment des praktischen Vollzugs selbst (dauerhaft) der Kritik zugänglich.
- Zusammenfassend kann festgehalten werden: Die Kraft der Sprache, Wirklichkeit zu erzeugen, wird durch die Schriftlichkeit in einem unglaublichen Maße potenziert.