(Davor: Fallverstehen in der Theorie)
Vorblick
Nach den zuvor dargelegten theoretischen Ausführungen zu den drei Modi des Fallverstehens in der Theorie der abstrakt formulierte Anspruch nun konkret in Form methodischer Anwendung auf das Datenmaterial auf die Probe gestellt werden. Dabei wird auf ein Blatt, genauer auf einen Ausschnitt eines frühen Reflexionsblattes, exemplarisch eingegangen. Im Einzelnen:
- In konstitutionstheoretischer Hinsicht wird der Satz, ‚die Krise ist der Ursprung von Erkenntnis‘ veranschaulicht.
- Dabei kommt vor allem das naturwüchsige Fallverstehen (Modus 1) eines Kindes zur Anschauung, denn das Analyse- bzw. Datenmaterial ist eine Anfangspassage (Ausschnitt) aus einem frühen Reflexionsblatt aus der Kompetenzmappe Ernas.
- Zur Explizierung des kindlichen Fallverstehens wird der wissenschaftliche Modus 3 (des Fallverstehens) herangezogen (Kapitel 1.8.3 sowie 1.9).
- Schließlich wird die Frage vorgemerkt, welche Funktion eine allfällige pädagogische Intervention (beruhend auf dem Fallverstehen im Modus 2) im dargelegten Geschehen hat (Kapitel 1.9.3).
- Abgeschlossen wird dieser kleine exemplarische Einblick in die Rekonstruktion eines Ausschnitts des Datenmaterials mit dem Hinweis, dass der gesamte Forschungsprozess in vielen Erkenntnisspiralen vollzogen worden ist.
- In einer dann anschließenden ersten Erkenntnis- und Ergebnissicherung (Kapitel 1.9 und insbesondere 1.9.3) wird die gerade angesprochene Erkenntnisspirale ‚weitergedreht‘ und von der Illustration zur Rekonstruktion übergegangen .
Naturwüchsiges Fallverstehen (Modus 1) – Wissenschaftlich expliziert (Modus 3)
Das naturwüchsige Fallverstehen Modus 1 wird nun anhand eines Ausschnittes (Abbildung: Überschrift und pseudonyme Signatur von Blatt 01.10.2012: Reiten) aus einem Reflexionsblatt (Blatt 01.10.2012: Reiten), vor allem illustrativ gezeigt. Zur Explizierung der in Blatt 01.10.2012 manifestierten Reflexionen Ernas, die schon im Vorhinein als naturwüchsig bezeichnet werden (was sich allerdings erst als richtig erweisen muss), wird also immer wieder in den wissenschaftlichen Modus 3 geschwenkt.
‚Illustrativ‘ hebe ich hier hervor, weil es an dieser Stelle vor allem um die Veranschaulichung von theoriegeleiteten Erwägungen und nicht (hauptsächlich) um das Herleiten – also die Rekonstruktion – eines Arguments aus dem Datenmaterial geht.
Auch wenn die Qualität der Abbildung ziemlich mangelhaft ist, möge darüber hinweggesehen werden, denn gerade dieses Blatt hat sich in dieser Studie als Fundgrube erwiesen, und die Abbildungsqualität geht auf einen eiligen Schnappschuss zurück, beides wird in Kapitel 2.3 bis 2.3.12 noch eigens thematisiert.

Ein ‚natürliches Protokoll‘ ist abgebildet
Es liegt ein ‚natürliches Protokoll‘ (Oevermann 2013, S. 95) zur Anschauung (Abbildung: Überschrift und pseudonyme Signatur von Blatt 01.10.2012: Reiten) vor. Denn bevor ich (2016) als Forscher Zugang zu diesem Blatt bekommen habe, hat das Kind dieses Blatt am 01.10.2012 angefertigt und offensichtlich in eine Klarsichthülle (siehe den oberen Rand von Abbildung: Überschrift und pseudonyme Signatur von Blatt 01.10.2012: Reiten) gesteckt und in seine ‚Kompetenzmappe‘ eingeordnet. Den Ringordner, genauer den Schattenwurf von vier Ordner-Ringen kann man am oberen Rand auf dem weißen Streifen der Klarsichthülle erahnen. Es ist ein natürliches Protokoll im Unterschied zu einer wissenschaftlich motivierten und arrangierten Vorgangsweise bzw. Protokollierung, wie dies etwa bei Tests im Rahmen komplexer und erheblich standardisierter Prozeduren gebräuchlich ist. Von Fallverstehen kann bei solchen Test-Prozeduren im übrigen nicht zutreffender Weise gesprochen werden, sondern lediglich von Subsumption unter ein zuvor gefasstes Konzept (vgl. Oevermann 2013, S. 94-97).
Ringen um Sichtbarkeit – Nach und nach wird ein sequentieller Prozess deutlich
Nun zur Analyse des abgebildeten Blattsegmentes: Vor allem die erste Zeile zeugt von einem Ringen um die Sichtbarkeit der Schriftzeichen und einzelnen Wörter. Für Betrachter ist es gar nicht einfach den Anfang jenes Satzes zu entziffern, der rechts oben mit „REITEN“ endet. Im ‚Zurücktasten‘ zum Satzanfang (ganz oben am Bildrand und schließlich oben links der Mitte) ist nach und nach ein sequentiell verlaufender Prozess wahrzunehmen (Abbildung: Strukturtransformation im Schreibprozess – grafisch nachbearbeitet).

Um die Auseinandersetzung mit dem Schreibprozess zu erleichtern, werden in Abbildung 6 zwei Versionen von Nachbearbeitungen gezeigt: In der ersten Version wird vor allem das Rot des Blattes aufgehellt, da hat es zunächst den Anschein, als ob mit einem roten Stift auf dem roten Blatt geschrieben werde. Spätestens beim „T“ von „GUT“ scheint ein Stiftwechsel zu erfolgen, als Folge davon kann ein erhöhter Grauwert ab „T“ registriert werden. Es könnte aber auch sein, dass der Stift mit höherem Druck eingesetzt wurde. In der zweiten Version zeigt die Abbildung ausschließlich Grauwerte. In beiden Versionen wird das Ringen der Schreiberin um die Sichtbarkeit des Geschriebenen Wort für Wort, manchmal Buchstabe für Buchstabe, deutlich(er). Die Schreiberin transformiert ihre Schreibstruktur, also ihr Schreibverhalten.
Überträgt man diese erste Zeile in die hier genutzte Computer-Schrift, dann sieht das etwa so aus: ICH KANN GUT REITEN. Wobei die Schreibweise von „K“ in „KANN“ und „G“ in „GUT“ hier nicht zur Wiedergabe gebracht ist, das gilt auch für die (nur annähernd) horizontale Ausrichtung der Zeilen im Schreibprozess. Sehr wohl wurde eine Veränderung der Farb- bzw. Grauwerte zu berücksichtigen versucht. Auch in der schematisch vereinfachten Darstellung mittels Computer-Schrift zeigt sich eine Dynamik, nämlich die Erhöhung der Grauwerte und damit auch der Sichtbarkeit im Verhältnis zum Blatt also zum Schreibuntergrund.
Professionalisiertes Fallverstehen (Modus 2) – Freiwilliges Arbeitsbündnis
Als Modus 2 wird hier das professionalisierte Fallverstehen bezeichnet, das bestimmte Berufsgruppen idealerweise auszeichnet. Es wird in der Interventionspraxis bei der Ausübung solcher Berufe laufend benötigt, die den Klient*innen bei der Bewältigung ihrer Krisen im Rahmen eines freiwilligen Arbeitsbündnisses helfen, ihre Krisen so zu bewältigen, dass sie ihre (gefährdete) Autonomie wahren oder wieder erlangen können (vgl. Oevermann 1996a und 2008; Garz & Raven 2015). Das birgt hohe Anforderungen an Professionalisierte (Ärzt*innen, Pädagog*innen, Rechtsbeistände usw.). Denn sie müssen einerseits in der Lage sein zu bestimmen, was der Fall ist, worin also überhaupt und genau das Problem oder die jeweilige Krise der*des Klient*in besteht, und andererseits müssen sie auch ein Repertoire an bewährten Krisenlösungen parat haben, sodass ihre Klient*innen dadurch entlastet werden. Die hohen Anforderungen an diese Professionen sind in entsprechenden Strukturanalysen der grundlegenden Herausforderungen im jeweiligen Arbeitsfeld zu bestimmen, und auch immer wieder zu aktualisieren.
[Entscheidend dabei ist] immer die Rekonstruktion der typischen Handlungslogik der Professionen in Reaktion auf das typische Handlungsproblem (Oevermann 2008, S. 56).
In größtmöglicher Schlichtheit und zunächst auch scheinbar der modernen Zeit entrückt, aber doch vor dem Hintergrund sehr langer Berufspraxis an verschiedenen Positionen des österreichischen Schulwesens, postuliere ich – unter Berufung auf Sokrates und Maria Montessori – als typisches Handlungsproblem von Pädagog*innen, ihren Schüler*innen einen Weg zu ermöglichen, es selbst herauszufinden und selbst zu tun, also die Eigenständigkeit ihrer Schüler*innen so zu bestärken, dass sie selbst (und in Gemeinschaften) zu Antworten auf ihre Fragen, und zu Lösungen für ihre Probleme gelangen.
Bei diesen sehr allgemeinen Aussagen bleibt es nur an dieser Stelle. Denn obwohl mehrfach betont worden ist, dass die Arbeiten eines Kindes in der Schule in den Vordergrund der Thematik und auch des Datenmaterials dieser Studie rücken, wird der Frage, wie die Pädagogik im unmittelbaren Umfeld des Mädchens Erna die gerade thematisierte strukturelle Herausforderung als typisches Handlungsproblem aufgefasst und bewältigt hat, vor allem in Kapitel 3 der Langform der Studie als pädagogisches Konzept ‚Kompetenzmappe‘ zum Thema. Dabei geht es schließlich auch um die Frage: Worin genau besteht das Konzept ‚Reflexionsblätter‘? Und: Wie hängen diese beiden Konzepte letztlich mit den drei Forschungsfragen zusammen?
(Weiter zu: Zur Logik der Fallrekonstruktion – Kontrast zu Subsumption)