(Davor: ‚Latente Sinnstrukturen‘ und ‚objektive Bedeutungsstrukturen‘ (6.3.1))
Die Objektive Hermeneutik setzt methodisch bei den objektiviert vorliegenden Ausdrucksgestalten und nicht bei (methodisch kaum zugänglichen) subjektiven Motiven und subjektiven Dispositionen an.
Es ist also ein Verfahren, das sich auf die „verstehbaren“ Gegenstandsbereiche der Sozial‑, Geistes- und Kulturwissenschaften nicht dadurch richtet, daß es, wie alle sonstigen Methoden dieser Wissenschaften, primär deren subjektiven Niederschlag oder subjektive Repräsentanz im Bewußtsein der Handelnden nachvollzieht oder zu erschließen versucht. Das wäre grundsätzlich mit Unsicherheiten behaftet und ein Verfahren, das selbst noch der zu untersuchenden Praxis des Verstehens angehört. Viel mehr macht die objektive Hermeneutik ernst mit den Konsequenzen der grundlegenden Erkenntnis, daß jede subjektive Disposition, d.h. jedes psychische Motiv, jede Erwartung, jede Meinung, Haltung, Wertorientierung, jede Vorstellung, Hoffnung, Fantasie und jeder Wunsch methodisch überprüfbar nie direkt greifbar sind, sondern immer nur vermittels einer Ausdrucksgestalt oder einer Spur, in der sie sich verkörpern oder die sie hinterlassen haben. Zutreffend entschlüsseln läßt sich daher eine solche Disposition erst, wenn man zuvor die objektive Bedeutung jener Ausdrucksgestalt entziffert hat. Erst dann kann man zur begründeten Erschließung der Struktur der subjektiven Disposition selbst übergehen (Oevermann 2002, S. 2).
(Weiter zu: ‚Authentisch‘ (6.3.3))