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Autonomie: ‚Deskriptiv-analytisch‘ und ‚normativ-wertend‘ (6.7.5)

(Davor: Lebenspraxis ‚konstituiert‘ sich und ihre Autonomie im ‚Vollzug‘ (6.7.4))


Gerade in der letztgenannten Formulierung zeigt sich auch der normativ-wertende Aspekt von Autonomie, indem deutlich wird, dass man umso autonomer werden kann, je mehr und je schwierigeren Situationen man sich stellt – und in diesen Situationen sich zu Krisenlösungen entschließt, und sich mit den vollzogenen Lösungen auch bewährt –. Wobei die fehlenden Routinen verdeutlichen, dass man sich in diesen krisenhaften Situationen nicht nur bewähren, sondern auch scheitern kann.

Für einige dieser Grundbegriffe, die sich auf die Konstitution der Lebenspraxis als Totalität beziehen, […] vor allem für die Begriffe von Autonomie, Individuierung, Bewährung und Authentizität gilt, […] daß sie notwendig zugleich normativen und deskriptiv-analytischen Charakter haben und darin keineswegs ein zu beseitigender Mangel zu sehen ist, sondern ein konstitutionstheoretisch zwingender Zusammenhang. Deskriptiv-analytisch bezeichnen solche Begriffe je ein universales Strukturproblem, vor das jede Lebenspraxis in ihrem Bildungsprozeß gestellt ist und das sie, ob sie will oder nicht, zu bewältigen hat. Normativ hingegen bezeichnen diese Begriffe zugleich den Grad des Gelingens in dieser Problembewältigung, deren Dimensionierung eben immer nur vom Ende des kontrafaktisch geltenden, idealisierten Gelingens her darstellbar ist (Oevermann 2002, S. 25f.).

Insofern also Lebenspraxis sich „in ihrem Bildungsprozess“ an Herausforderungen „universaler Strukturprobleme“ bewähren muss, spricht Oevermann von „konstitutionstheoretisch zwingendem Zusammenhang“, der bei einigen (wenigen) „Grundbegriffen“ dazu führt, dass sie „notwendig“ sowohl „deskriptiv-analytisch“ als auch „normativ“ verwendet werden. Notwendig insofern, als manche Strukturprobleme unvermeidbar sind (man denke an die Notwendigkeit des Erwachsen-Werdens und welche unvermeidbaren Herausforderungen das fortschreitende Leben mit sich bringt). Allerdings kann man solche Herausforderungen besser oder weniger gut bewältigen, womit ein normativer Aspekt angesprochen ist.

In dem Zusammenhang, dass man als Subjekt, das seine Autonomie gebraucht und dabei auch einzigartig ausprägt bzw. individuiert, immer auch scheitern kann, wird auch plausibel, dass hier von einem abstrakt bleibendem Modell und nicht von einer Definition von Autonomie ausgegangen wird. Überdies sollte damit auch verständlich geworden sein, dass Autonomie nur rekonstruktiv, also im Nachhinein genauer erfasst werden kann, wenn „echte“ – also zukunftsoffene – Entscheidungen getroffen worden sind, und die Folgen solcher Entscheidungen in eine offene Zukunft betrachtet werden können.

Deskriptiv-analytisch betrachtet ist jede lebenspraktische Entscheidung, sofern mehrere Möglichkeiten (mehr oder weniger bewusst) in eine offene Zukunft führen, als autonom zu bezeichnen. In einem normativ-wertenden Verständnis ist Autonomie, in Anbetracht der jeweiligen Verhältnisse, (und von einem Idealstandpunkt aus betrachtet) insofern erstrebenswert und wertvoll, als sie das Tor zu weitergehender Autonomie und weiterreichenden Möglichkeiten, in denen man sich bewähren kann, öffnet.


(Weiter zu: Ein ‚konstitutionstheoretisches‘ (kein praktisches) Modell (6.7.6))