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In der ‚Praxis‘ ist ‚Routine‘ gefragt und die ‚Krise‘ ein ‚Grenzfall‘ (6.7.7)

(Davor: Ein ‚konstitutionstheoretisches‘ (kein praktisches) Modell (6.7.6))


Während hier (in dieser wissenschaftlichen Arbeit) systematisch krisentheoretisch im analytischen Paradigma von „Krise und Routine“ an die Sache herangegangen wird, kommt aus der Perspektive der Praxis der überraschende „Grenzfall“ in den Blick, in welchem eine „Krise manifest vorliegt“, die auch als „Entscheidungsungewissheit“ auftritt. Denn

in der Praxis [gelten] solche Krisen als negative Ausnahmen […], während sie in der fallibilistischen Erfahrungswissenschaft bewußt, das Scheitern der Praxis simulierend, herbeigeführt werden (Oevermann 2002, S. 9).

Im Handlungsdruck der zügig voranschreitenden Praxis ist die Routine die selbstverständliche und erwünschte Normalität, demgegenüber ist das Versagen der Routine der störende Grenzfall („Krise als negative Ausnahme“). Umgekehrt wird in auf Falsifikation von Hypothesen gerichteten Verfahren „fallibilistisch“ – übertragen auf die krisentheoretische Denkweise der objektiven Hermeneutik – gleichsam ein Scheitern der Routinen und Gewissheiten „simulierend herbeigeführt“. Dass sich die objektive Hermeneutik nicht mit Fallibilismus begnügt, sondern eine „Logik der Entdeckung“ betreibt, sei hier nur vermerkt, es wird an andere Stelle ausgeführt (Kapitel 1.1.4).

Das idealtypische bzw. stilisierende Herausarbeiten des Gegensatzpaares von „Krise und Routine“ zeigt sich auch in diesem Zitat, als das Erkenntnis- und Erklärungsmuster, das ein weitreichendes Paradigma auszeichnet. Von diesem Paradigma sagt Oevermann in seiner „Abschiedsvorlesung“ 2008, am Ende einer 50-jährigen ‚Forschungsreise‘:

Das Verhältnis von Krise und Routine habe ich als leitenden Gesichtspunkt gewählt, weil er aus unseren Forschungen immer bestimmender heraustrat (Oevermann 2016, S. 44).

Um dieses Verhältnis von „Krise und Routine“, das schließlich als „analytisches Paradigma in den Sozialwissenschaften“ bezeichnet wird, genauer darzustellen, muss man dort ansetzen, wo, der objektiven Hermeneutik zufolge, die Wissenschaft genaugenommen beginnt, nämlich beim Protokoll (Kapitel 6.4).


(Weiter zu: ‚Krise und Routine‘ – das Paradigma der Objektiven Hermeneutik (6.8))