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Lebenspraxis als ‚Einheit des Lebendigen‘ (6.7.1)

(Davor: Die ‚Autonomie‘ der Lebenspraxis konstituiert sich in ‚Krisen‘ (6.7))


Mit dem folgendem Zitat möchte ich einen Zusammenhang zum seit Jahrtausenden gepflegten philosophischen Diskurs um das Begriffspaar von Haben und Sein herstellen:

Jeder Mensch und jede menschliche Gemeinschaft […] hat eine Lebenspraxis. Zugleich ist jeder Mensch und jede menschliche Gemeinschaft aber auch Erzeuger bzw. Erzeugerin (Agens) dieser Lebenspraxis (Garz & Raven 2015, S. 26).

Dieses doppelte Verhältnis zur menschlichen Lebenspraxis, diese sowohl haben zu können, und sie gleichzeitig auch schaffen zu können, und damit auch letztlich sein eigenes Sein (und dessen Qualität) selbst erzeugen zu können, wird hier im Folgenden von mehreren Seiten betrachtet.

Oevermann bezeichnet mit dem Begriff Lebenspraxis zunächst

eine Lebenseinheit, in der sich Somatisches, Psychisches, Soziales und Kulturelles synthetisiert. […] die sich nicht nur in der Biographie einer personalen Existenz, also in der Sozialisation einer einzelnen Person verkörpert, sondern z.B. auch in der sozialisatorischen Praxis einer je konkreten Familie als sozialisatorischen Beziehungssystems (Oevermann 2004, S. 157f.).

Diese „Lebenseinheit“ bzw. der Begriff Lebenspraxis ist sehr weit, und damit auch hoch abstrakt gefasst, insofern in dieser Einheit „Somatisches, Psychisches, Soziales und Kulturelles synthetisiert“ sind, also Körperliches, Geistig-Seelisches und Gesellschaftlich-Kulturelles zusammengeflossen sind. Der Grad an Abstraktion macht es möglich, auch größere Handlungseinheiten, also über ein Einzelindividuum hinausgehend, etwa Familien, in einem Begriff zu erfassen.

Im Zusammenhang dieser Begriffsbildung weist Oevermann darauf hin, dass etwa Sigmund Freud wie selbstverständlich von dieser Einheit einer Lebenspraxis ausging, wenn er heilend auf sie einwirkte, aber noch keinen Begriff dafür hatte.

Ich schlage den Begriff der Lebenspraxis für diese Einheit vor, weil er abstrakt und allgemein genug dafür ist, die Einheit des Lebendigen sowohl abgehoben vom Aggregierungsniveau der individuellen Person verallgemeinert zu erfassen als auch als einen fallstrukturgesetzlichen Zusammenhang von Soma, Psyche und Sozialität. Mit diesem Begriff lässt sich zudem das Denken des Pragmatismus ebenso bequem kombinieren wie der fruchtbare Begriff der Positionalität in der Plessner’schen Anthropologie, womit das, was wir vor allem benötigen, gesichert wird: die Überführung einer statischen in eine dynamische Betrachtungsweise (Oevermann 2004, S. 158).

In dieser Passage reflektiert Oevermann, was in dieser Begriffsbildung der Lebenspraxis systematisch Berücksichtigung findet, sodass eine „Überführung einer statischen in eine dynamische Betrachtungsweise“, also eine voller Leben, zustande kommt. Der wissenschaftstheoretische Bezug zum Pragmatismus wird an dieser Stelle des Aufbaus eines Modells der Autonomie der Lebenspraxis nicht weiter ausgeführt, hier geht es zunächst darum, das Modell in seiner Hauptleistung kennen zu lernen, sodass es bezugsfähig wird.

Etwas genauer sei noch auf den Zusammenhang zu Plessners Anthropologie hingewiesen (vgl. auch Fischer 2000). In Bezugnahme auf Plessner betont Oevermann die „biologisch gegebene Lebensmitte“; um diese, sowie um ein „Unbewusstes“ wird „Subjektivität“ angeordnet, genauer gesagt „zentriert“:

Lebenspraxis bezeichnet also eine um eine zugleich biologisch gegebene Lebensmitte, d.h. um einen Leib und ein Unbewusstes zentrierte Subjektivität (Oevermann 2004, S. 159f.).

Die derart charakterisierte Lebenspraxis ist also sowohl an einen Leib gebunden, und damit vergängliches Leben mit Haut und Haar, mit bedürftigem wie auch potentem Körper und mit mehr oder weniger gut ausgeprägten Sinnen. Um diese „zugleich biologische Lebensmitte“ herum, zentriert und integriert in den Leib, ist mehr oder weniger bewusst die Geschichte dieser Lebenspraxis angeordnet. Dieses lebendige Ganze entfaltet (ebenfalls mehr oder weniger bewusst) nicht nur weitere Praxis, sondern findet dabei auch zu seiner Subjektivität und Bewusstheit, indem sie „in ihrer Autonomie […] konstituiert“ wird, was im Folgenden ausgeführt wird.


(Weiter zu: Wie kommt es nun zur Autonomie einer solchen Lebenseinheit? (6.7.2))