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Eine ‚eigenlogische Realitätsebene‘: ‚Objektive Sinnstrukturen‘ (6.6)

(Davor: ‚Lebenspraxis‘ – ‚Praxiszeit‘ und ‚Praxisraum‘ – ‚Präsenz im Sprechakt‘ (6.5))


Objektive Sinnstrukturen bezeichnet Oevermann als „Beobachtung eines eigenen Typs“, sie seien der Gegenstand der Objektiven Hermeneutik:

Ihr Gegenstand ist genau diese eigenlogische Realitätsebene von objektiven Sinnstrukturen, die durch Regeln der Wohlgeformtheit erzeugt werden, nicht der subjektiv gemeinte Sinn der Handlungstheorien und nicht die innerpsychische Realität von Intentionalität (Oevermann 2016, S. 62).

Was im Zitat als „eigenlogische Realitätsebene von objektiven Sinnstrukturen“ bezeichnet wird, wird schließlich als methodologischer Realismus ausgeführt, und zwar in ausdrücklichem Kontrast zu einem sehr verbreiteten, den Naturwissenschaften (science) entlehnten Wissenschaftsverständnis, das, der Objektiven Hermeneutik zufolge, oft unangemessen auch auf andere Wissenschaftsdomänen im sozialen, geistigen und kulturellen Bereich übertragen wird:

[Wir müssen] mit dem auf David Hume zurückgehenden Begriff von Empirie brechen, für den empirisch nur das ist, was durch die Wahrnehmungssinne in den erkennenden Geist gelangt („Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu“), und alles, was dieses Kriterium nicht erfüllt, metaphysisch, und damit außerhalb der Reichweite der Erfahrungswissenschaften liegt. Deshalb überschreitet die objektive Hermeneutik die mit dem Hume`schen Empiriebegriff gekoppelte implizite dogmatische Ontologisierung von Realität und erfahrbarer Welt und folgt einem methodologischen Realismus, indem sie als empirisch alles das ansieht, was sich durch Methoden der Geltungsüberprüfung in der Gegenständlichkeit erfahrbarer Welt nachweisen läßt. Das trifft auf die objektiven Sinn- und Bedeutungsstrukturen von Ausdrucksgestalten fraglos zu (Oevermann 2002, S. 3).

In ausdrücklicher Kritik und Ergänzung („Überschreitung“) jenes naturwissenschaftlichen Verständnisses von Empirie, das ausschließlich auf sinnlich Beobachtbarem beruht, behauptet und begründet Oevermann im methodologischen Realismus der Objektiven Hermeneutik ein Verständnis von Empirie, das „objektive Sinn- und Bedeutungsstrukturen“ methodologisch begründet für real ansieht, insofern sie durch entsprechende Methoden wissenschaftlich in ihrer Geltung überprüft und erklärt werden können.

[Der] Gegenstand [der Methodologie der Objektiven Hermeneutik] ist genau diese eigenlogische Realitätsebene von objektiven Sinnstrukturen, die durch Regeln der Wohlgeformtheit erzeugt werden, nicht der subjektiv gemeinte Sinn der Handlungstheorien und nicht die innerpsychische Realität von Intentionalität (Oevermann 2016, S. 62; [Klammer eingefügt bzw. Wortstellung verändert von R.S.]).

Die Hervorhebung der objektiven Sinnstrukturen sowohl als Gegenstand der Objektiven Hermeneutik als auch als reales Gebilde mit eigener Logik, nämlich der „Wohlgeformtheit“,zeichnen die Methodologie aus, sie werden auch zur Grundlage von Abgrenzungen.

Abgrenzungen

Die Abgrenzungen, die hier gerade angesprochen werden, betreffen insbesondere den „subjektiv gemeinten Sinn“, welcher von anderen Methoden- und Erkenntnis-Ansätzen in den Vordergrund gerückt wird; die Objektive Hermeneutik hingegen betont, dass der subjektiv (gemeinte) Sinn mit streng wissenschaftlichen Methoden nicht zugänglich sei, er müsse vielmehr über den Umweg (der Rekonstruktion) objektivierter Äußerungen erschlossen werden:

Man kann das auch einfach ausdrücken. Meinen kann ich nur subjektiv etwas, nicht objektiv, das wäre ein Widerspruch in sich. Sagen dagegen kann ich nur objektiv etwas, und nicht subjektiv. Denn das Gesagte ist eine protokollierbare objektive Realität, nicht aber das subjektiv Gemeinte. Um dieses subjektiv Gemeinte zu erschließen, bin ich notwendig auf das objektiv Gesagte (oder sonst zum Ausdruck Gebrachte und in ihm Objektivierte), worin es ausgedrückt worden ist, angewiesen (Oevermann 2016, S. 62).

Die Verwendung „einfacher“ Argumente ist auch als Hinweis darauf zu verstehen, dass der Unterschied von subjektiv gemeint und objektiv gesagt sowohl im Alltagsleben als auch in den Sozialwissenschaften eine bedeutende, wenn auch unterschiedliche Rolle spielt. So bewältigen wir viele Alltagsituationen effizient, indem wir wechselseitig Annahmen über das treffen, was ein Gegenüber meine, oder wir können uns überhaupt auf entsprechende Konventionen verlassen. Manchmal allerdings kommt es zu unklaren Situationen oder Missverständnissen, dann ist auch im Alltag Rekonstruktion in Bezug auf das tatsächlich Gesagte zur Problemlösung gefragt. Der Unterschied zwischen „naturwüchsiger“ (auch im Alltag möglicher bzw. praktizierter) zu methodisch kontrollierter Rekonstruktion wird an anderer Stelle ausgeführt (Kapitel 1.8). Hier im Zitat wird hervorgehoben, dass sich die Objektive Hermeneutik auf das „objektiv Gesagte“ (oder sonst zum Ausdruck Gebrachte und in ihm Objektivierte) konzentriere bzw. aus guten Gründen für „angewiesen“ halte. Diese grundsätzliche Ausrichtung wird im Übrigen für so wichtig gehalten, dass sie Eingang in den Namen der Objektiven Hermeneutik gefunden hat.

Wissenschaftliche Analyse

Wissenschaftliche Analyse findet – der Methodologie der Objektiven Hermeneutik folgend – getrennt von der Gegenwärtigkeit der Praxiszeit aber auch des Praxisraumes statt und bezieht sich auf gleichsam zeitlos gestellte Protokolle der zu untersuchenden Lebenspraxis (siehe dazu auch das Kapitel 6.5). Wissenschaftler*innen können demnach an der zu analysierenden Praxis nicht als (distanzierte) Wissenschaftler*innen gleichzeitig (während die zu untersuchende Praxis vollzogen wird) mitwirken – tun sie es doch, so werden sie (dieser Logik folgend) zu involvierten Praktiker*innen. Das bedeutet zum einen, dass auch deren Praxis an Hand von (protokollierten) Ausdrucksgestalten wissenschaftlich untersucht werden kann, und zwar wiederum abgehoben von der jeweiligen Praxiszeit und vom jeweiligen Praxisraum. Und zum anderen unterliegen also auch Wissenschaftler*innen (dieser Konstitutionstheorie von der Polarität von Praxis und Wissenschaft folgend) der Handlungsdynamik von Praxis im je präsenten Vollzug von wissenschaftlichen Verfahren, die sich allerdings in der Regel dadurch auszeichnen, dass sie nachvollziehbare Protokolle hervorbringen, die wiederum darauf angelegt sind, dass sie zeitlos gestellt, also der Gegenwärtigkeit der Praxiszeit enthoben werden.


(Weiter zu: Die ‚Autonomie‘ der Lebenspraxis konstituiert sich in ‚Krisen‘ (6.7))