(Davor: In der ‚Praxis‘ ist ‚Routine‘ gefragt und die ‚Krise‘ ein ‚Grenzfall‘ (6.7.7))
„Krise und Routine“ als übergreifendes „analytisches“ Paradigmader Objektiven Hermeneutikwird nun in seiner postulierten grundlegenden Bedeutung, wie sie Oevermann am Ende seiner mehr als fünfzig Jahre währenden Forschung in seiner Abschiedsvorlesung aus dem Jahr 2008, in der 2016 publizierten Form hervorgehoben hat (siehe Oevermann 2016).
Als Methodologie sei der systematische logische bzw. theoretische Zusammenhang eines wissenschaftlichen Ansatzes zwischen allgemeinen Konstitutionstheorien, konkreteren Gegenstandstheorien und empirischen Verfahren bezeichnet. Oevermann hebt für die Methodologie der Objektiven Hermeneutik das Paradigma von „Krise und Routine“ hervor, das in seinen gesamten Forschungen letztlich aus meta- und konstitutionstheoretischen Betrachtungen als leitender Gesichtspunkt hervorgetreten sei (Oevermann 2016, S. 44). Er betont Krisen(als Scheitern von Routinen)und den Prozess ihrer Bewältigung und schließlich die Bewährung von Krisenlösungen, die schließlich als neue Routinen bereit stünden. Dieses Wechselverhältnis sei – mit der Betonung auf Krisen als Ursprung von Neuem – konstitutiv für Lebenspraxis und ihre Autonomie und letztlich auch für die Entwicklung der Gattung Mensch.
Allerdings handle es sich bei der Betonung der konstitutiven Dimension der Krise für Lebenspraxis um eine methodologische Perspektive der Erklärung und Rekonstruktion: Im fortgesetzt unter Handlungsdruck stehenden praktischen Leben seien die einmal (in Krisen) gefundenen Krisenlösungen, die zu Routinen geworden sind, von großer und ständiger Bedeutung.
Routinen (sie sind also entstehungsgeschichtlich aus bewährten Krisenlösungen hervorgegangen) ermöglichen rasches und effizientes Handeln, und zwar so lange bis und insofern als die Lebenspraxis damit nicht scheitert. Gerät die Lebenspraxis mit einer Routine in die Krise, dann ist eine neue Krisenlösung erforderlich. Es bestehe (stark vereinfachend ausgedrückt) ein polarer, also eine Einheit bildender, gegensätzlicher (dialektischer) Zusammenhang von Krise und Routine. In der zitierten Abschiedsvorlesung fasst Oevermann das im Gesamtwerk der Objektiven Hermeneutik betriebene und im Zuge seiner Forschungen „hervortretende“ Paradigma von „Krise und Routine“ in drei Zugriffen zusammen: Der erste Zugriff rückt den Zusammenhang von Krise und Sprache in den Vordergrund, im zweiten Zugriff wird eine Unterscheidung von Krisentypen eingeführt und im dritten wird das Herzstück der Methodologie und Krisentheorie der Objektiven Hermeneutik, die Sequenzanalyse zum Thema.