(Davor: Das ‚sprachfähige Subjekt‘ in der Krise (6.8.1))
Das Paradoxe dieser konstitutionstheoretischen Sicht auf das Subjekt (hier Synonym für Lebenspraxis) ist demnach, dass für die bewusste Bildung des Subjekts beides, „Krise und Routine“ als Einheit, letztlich konstitutiv ist:
So lange das X für ein Subjekt ein X ist, also unbestimmt, so lange kann sich das Subjekt als Subjekt selbst nicht bestimmen, solange befindet es sich in der akuten Krise und erlebt sich gerade dadurch als auf anderes nicht reduzierbares eigenlogisches Subjekt. Nun kann man festhalten, daß das Subjekt sich als Subjekt genau dann erfährt, wenn es sich in der Krise befindet. Sobald es diese gelöst hat, etwa durch eine Gültigkeit beanspruchende Bestimmung von X, ist es zurückgekehrt in die Routine (Oevermann 2016, S. 57).
Unter den Bedingungen der akuten Krise, die gemäß dieses konstitutionstheoretischen Ansatzes so lange währt, wie die ins Bewusstsein getretene Herausforderung nicht bewältigt ist, also das rätselhafte Unbestimmte („X“) vorliegt und vom Subjekt bzw. „Ich“ (noch) nicht bestimmt werden kann, erfährt sich dieses Subjekt in der Krise: Es liegt (in dieser Situation) ganz allein an ihm, eine Lösung der Herausforderung (Krise) zu wagen. In dieser Situation der Herausforderung und „Krise“ erlebt es sich als „eigenlogisches Subjekt“. Sobald es allerdings eine Lösung vollzieht – idealer Weise eine Lösung von allgemeiner Gültigkeit – erreicht es wieder einen Zustand der Routine.
Am Beispiel der gerade vorgetragenen Rezeption eines Ausschnitts von Oevermanns hoch abstrakter Krisentheorie kann ich zu meinem (krisenhaften) Schreibprozess zur exemplarischen Rezeption von Oevermanns analytischem Paradigma von „Krise und Routine“ reflexiv festhalten: In der Phase der Krise hatte ich zunächst bloß die Herausforderung der eigenständigen Rezeption vor Augen, aber Oevermanns Aussage in eigenen Worten angemessen, möglichst verständlich und eigenständig in diese Studie zu integrieren, war lange Zeit ein offenes, krisenhaftes Problem, das ich jetzt, nach durchgeführter rezeptiver Reformulierung reflexiv (möglichst routiniert) weiterbearbeite. Ob ich damit tatsächlich „eine allgemein gültige Bestimmung von X [= dieses Zitat]“ vorgenommen habe, wird sich zwar frühestens in der Rückmeldung des Fachlektorats erweisen. Dabei wird auch die Verwendung der Ich-Form kritisch betrachtet werden, sie wird im wissenschaftlichen Kontext meist vermieden. Hier wird sie als Bezeichnung für eine Spontaneitätsinstanz – also eines Ichs, das nur als solches in die Krise geraten, und zu neuer Erkenntnis gelangen kann – in bestimmten Phasen des Forschungsprozesses für angemessen gehalten.
(Weiter zu: ‚Forschen‘ als Simulation von Krisen (6.8.3))