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Das ‚sprachfähige Subjekt‘ in der Krise (6.8.1)

(Davor: ‚Krise und Routine‘ – das Paradigma der Objektiven Hermeneutik (6.8))


In einem ersten Zugriff auf die ‚Relation‘ und ‚Komplementarität‘ (ebd. S. 52) von Krise und Routine wird in einigen Facetten aufgezeigt, dass und wie wir (Menschen) auf (noch) Unbestimmtes (Rätselhaftes), das in unser „Aufmerksamkeitsbewusstsein“ tritt, letztlich mittels unserer Sprache reagieren:

Wir können nicht nicht reagieren (Oevermann 2016, S. 51).

Wir sind prädikationsfähige Subjekte, und als solche können wir also in eine Krise geraten, wenn Rätselhaftes in unser Aufmerksamkeitsbewusstsein tritt:

Krise bezeichnet also eine Eigenschaft der Relation zwischen einem Gegenstand und einem konkreten Erfahrungssubjekt (S), für das dieser Gegenstand unbestimmt ist (ebd. S. 53).

Das sprachfähige Subjekt wird in diesem Zusammenhang von der Objektiven Hermeneutik Oevermanns ausdrücklich nicht solipsistisch bzw. bewusstseinsphilosophisch in einer (vereinzelten) Objekt-Subjekt-Relation gedacht, sondern dialogisch:

Dieser immer dialogische Sprechakt vollzieht sich zwischen zwei Subjekten, die denselben konstitutiven Regeln von Sprechakten folgen (ebd. S. 56).

Demnach stellt das Subjekt im Dialog mit einem anderen Subjekt eine Behauptung, eine Propositionüber das ursprünglich unbestimmte Objekt X auf: X ist ein P. Diese Behauptung, mit der das zuvor unbekannte und damit krisenhafte X sodann als P bestimmt (prädiziert) wird, kann bereits ein Schritt aus der Krise, also eine Krisenlösung sein, die sich bewähren könnte.

Gleichzeitig gerät diese Behauptung aber auch zur Selbstbehauptung, insofern deutlich wird, dass das Subjekt, das diese Bestimmung vorgenommen hat, damit seiner selbst bewusst werden kann, und zwar als jemand, der in die Krise geraten ist, aber auch einen Weg aus der Krise gesucht und in einem Vollzug diese Krisenlösung gewagt hat.

Dabei verweist Oevermann auch darauf, dass

die Grundform der Proposition der elementaren Prädikation, [nämlich] X ist ein P (Oevermann 2016, S. 47f.)

voraussetzungsvoller sei, als dies dem ersten Anschein nach vielleicht anmutet. In der Regel werde die Vorbedingung der Prädikation gar nicht mehr beachtet, was wissenschaftlich „leichtfertig“ sei (ebd. S. 47). Schließlich seien gerade einfache Propositionen der Prädikation höchst verbreitet und allen Sprechenden entsprechend geläufig; wissenschaftlich sei also auch das Geläufige ausdrücklich zu erklären (vgl. ebd. S. 46f.):

Zum einen werde Sprachvermögen bereits vorausgesetzt, zum andern seien X und P allerdings Bezeichnungen für kategorial bzw. qualitativ Unterschiedliches. X bezeichnet demnach einen noch nicht bestimmten Gegenstand, und sei überdies der Sphäre der Krise jener Lebenspraxis zuzurechnen, die als Subjekt die Prädikation vornimmt. Dem stehe mit P als Prädikation ein Zeichen für Bekanntes und somit Bewährtes also Routine gegenüber. Verbunden seien diese grundverschiedenen (durch einen Hiatus getrennten) Kategorien mit der Kopula „ist“.

Die Unterschiedlichkeit treibt Oevermann noch durch einen ausdrücklichen Zusammenhang zu Adornos „negativer Dialektik“ weiter, der zufolge das „Nicht-Identische“ (Einzigartige) sich nur durch Kunst, also „sinnliche Suggestion“ erfassen lasse (ebd. S. 51f.). Sobald Sprache ins Spiel käme, sei die Gefahr, dass das Nicht-Identische durch Sprache denaturiert werde. Oevermann betont in diesem Zusammenhang allerdings die „begriffliche Erkenntnisfunktion von Wissenschaft“ – damit werde die sinnlich-suggestive Erkenntnis von Kunst ergänzt. Gleichzeitig knüpft Oevermann damit ausdrücklich an Adornos Ästhetiktheorie an:

Er [Adorno] bezeichnet gleichwohl die ästhetische Basis jeglicher Erkenntnis und damit auch das Andockproblem in den Erfahrungswissenschaften: wie können wir geregelt die X.e durch Prädikate bestimmen (ebd. S. 52).

Und genau dieses „Andockproblem“, also die Verbindung von widersprüchlichen bzw. unvereinbaren Kategorien werde durch die Kopula „ist“ dialektisch hergestellt: Die Kopula „ist“ steht in diesem Zusammenhang für einen Vollzug einer Verknüpfung (siehe auch ebd. S. 48). In diesem Vollzug werde aus dem Unbestimmten („X“) etwas Bestimmtes („P“): X ist ein P (ebd.). Grammatisch aus gedrückt wird aus Infinitem („sein“) schließlich Finites („ist“).


(Weiter zu: ‚Bildung‘ als Krisen- und Selbsterfahrung des Subjekts (6.8.2))