(Davor: ‚Erklärung‘ als Ableitung der Routine aus der Krise (6.8.6))
Als echte, offene Entscheidungssituationen bezeichnet Oevermann solche Handlungskonstellationen, in denen eine Entscheidung getroffen werden muss, obwohl noch „keine bewährte Begründung für richtig und falsch“ zur Verfügung stehen kann, was aber nicht heiße, der Anspruch auf Begründbarkeit sei aufgegeben. Genau genommen – und handlungsentlastet betrachtet (was nur in Distanz zum Handlungsdruck der Praxis möglich ist) – seien nur bereits vollzogene Entscheidungen ausreichend zu begründen. Somit wäre die Alltagsweisheit, nachher sei man klüger, zutreffend. Oevermann geht in Bezug auf eine „genuine Neuerung“ so weit, zu sagen, dass man erst bei genauerer Betrachtung einer Krisenlösung, die sich bewährt, präziser sagen könne, worin das Problem bestanden habe. Das träfe im Übrigen auch auf angemessene Qualitätskriterien zu:
In echten Entscheidungssituationen, in denen eine Entscheidung getroffen werden muß, obwohl eine bewährte Begründung für richtig und falsch nicht zur Verfügung steht, dennoch aber „in the long run“ der Anspruch auf Begründbarkeit eingelöst werden muß, kann entsprechend die vollzogene Entscheidung im Moment des Vollzuges weder als rational noch als irrational gelten, weil für die Bemessung von Rationalität keine Kriterien zur Verfügung stehen. Eine mögliche Rationalität kann sich erst durch einen noch offenen Bewährungsprozeß der Krisenlösung in der Zukunft erweisen. Sie wäre als sich bewährende dann zugleich auch eine Neuerung. Und wie bei jeder genuinen Neuerung ließe sich erst im Falle der Bewährung explizieren, worin die bewährte Krisenlösung eigentlich besteht, ja mehr noch: worin eigentlich das Problem genau bestand, was durch sie gelöst wird“ (Oevermann 2016, S. 67f.).
Im Paradigma von „Krise und Routine“ wird im je konkreten Fall demnach Rationalität aber auch Irrationalität eng an den Bewährungsprozess einer Krisenlösung und damit an eine rekonstruktionslogische Fallbestimmung gebunden, was sowohl mit der Zukunftsoffenheit von echten Entscheidungen als auch mit genuinen Neuerungen von Krisenlösungen zusammenhängt. Das Verhältnis von Krise und Routine wird in diesem Zusammenhang in seiner Komplementarität betont und gegenüber Theorien der rationalen Wahl (rational choice) abgegrenzt:
Ob also diese mit Hoffnung auf Begründbarkeit getroffene Entscheidung sich als rational oder irrational erweisen wird, muß man dem Bewährungsprozeß überlassen. Theorien der rationalen Wahl sind also nur für den Fall von Routinen geeignet, sie schließen Krisen dogmatisch aus. Die Angabe von Routinen erklärt aber als solche erst etwas, wenn die dazu komplementären Krisenkonstellationen auch expliziert sind (Oevermann 2016, S. 68).
Demnach ist der Anspruch der Objektiven Hermeneutik, Neuerungen aus dem Komplementärverhältnis von „Krise und Routine“ zu erklären, wobei bewährte Lösungen, also Routinen, in ihrer Entstehung auf Krisen zurückgeführt werden. Die zuvor bestehende Hoffnung auf Begründbarkeit (Rationalität) von Krisenlösungen könne also nur im Nachhinein eingelöst werden.
(Weiter zu: ‚Sequenzanalyse‘ (6.9 + 6.9.1))