(Davor: ‚Krise‘ als Scheitern von ‚Routinen‘ (6.8.5))
In diesem Argumentationszusammenhang weist Oevermann auf die krisentheoretisch sehr wichtige Ableitung der Routine aus der Krise hin, eine Ableitung die sequenzanalytisch, also empirisch, immer wieder aufs Neue bestätigt wird:
Deshalb weist uns die Sequenzanalyse darauf hin, daß nicht, wie in der Perspektive der Lebenspraxis selbst, die Routine den Normalfall bildet, sondern die Krise, und die Routine, die immer aus der Bewährung einer Krisenlösung hervorgegangen ist, aus der Krisenkonstellation sich ableitet, während umgekehrt die Krise sich nicht aus der Routine ableitet (ebd. S. 67).
Eine Erklärung für eine bestimmte Routinehandlung läge erst vor, wenn eine distanzierte Analyse erfolge, welche aufzeigen könne, inwiefern in der jeweiligen Situation die konkrete Routinehandlung im Unterschied zu anderen Handlungsmöglichkeiten Sinn ergebe:
Diese [Erklärung] läge erst vor, wenn in der Analyse, im Gegensatz zur Lebenspraxis selbst, die Krisenkonstellation, d. h. die alternativen Möglichkeiten an jeder Sequenzstelle expliziert sind, auf die hin die Routine eine Entscheidung bedeutet. Erst dann wird aus der Explikation der Routinen, die im übrigen sich auch erst mit Bezug auf diese Differenzierung von Möglichkeiten und wirklichen Vollzügen explizit bestimmen lassen, auch eine Erklärung (ebd.).
Ein Beispiel für Implikationen seines krisentheoretisch fundierten Anspruchs auf Erklärung im sozialwissenschaftlichen Bereich deutet Oevermann mit einem kurzen Hinweis auf ein notorisches Problem der Organisationssoziologie an: Diese würde zwischen der Totalität und Dynamik der Lebenspraxis einerseits und zweckrationalen Modellen von Organisation andererseits nicht ausreichend unterscheiden. Die Folge einer Konzentration auf „Organisation“ wäre, dass die Seite der Routine (einmal Bewährtes) – einseitig – in den Vordergrund rückte, wodurch eine „genuin krisenhafte Entscheidungssituation nicht formulierbar“ wäre:
Dieses Problem betrifft notorisch die Organisationssoziologie, in der meines Erachtens zwischen Lebenspraxis in ihrer Totalität und der Normierung von Abläufen analytisch nicht genügend geschieden wird. Organisationen sind letztlich nichts anderes als mehr oder weniger bewährte Routinen einer kollektiven Praxis, aber nicht diese Praxis in ihrer Totalität. Unternehmen machen nicht als Organisationen Pleite, sondern als Praxis. Die Organisation ist letztlich nur ein – möglicherweise untaugliches – Mittel zum Zweck, das sich natürlich als solches verselbständigen kann und häufig verselbständigt (Oevermann 2016, S. 67).
Organisation wird in diesem Zitat als Teilaspekt der Totalität von Lebenspraxis thematisiert: Organisation sei ein Mittel zum Zweck, das sich als untauglich herausstellen könne. Mit einer gewählten, wohlüberlegten Organisationsweise – basierend auf Rational-Choice-Theorien – würde aber nicht diese Organisation, sondern die kollektive Praxis, die dieser Routine folgt, in die Krise geraten. Das wiederum böte dieser kollektiven Praxis (die mit dieser Routine scheitert) die Möglichkeit und Notwendigkeit, einen neuen Lösungsweg zu riskieren, und dabei allenfalls auch andere Organisationsweisen zu forcieren:
Rational-Choice-Theorien fallen meines Erachtens diesem Verdikt der bloßen Paraphrasierung von Routinen anheim. In ihnen ist eine genuin krisenhafte Entscheidungssituation deshalb nicht formulierbar, weil ja die Prioritäten bzw. Präferenzen, nach denen die rationale Wahl zu treffen ist, schon immer vorweg festgelegt sind, also eine offene Entscheidungssituation von vornherein ausgeschlossen ist, wie ich sie zuvor gekennzeichnet habe (Oevermann 2016, S. 67).
Die als Beispiel sehr allgemein angesprochenen Grenzen der auf Rational-Choice-Theorien gründenden Organisationssoziologie dienen hier vor allem der theoretischen Diskussion von offenen Entscheidungssituationen im Verständnis des analytischen Paradigmas von „Krise und Routine“.
(Weiter zu: Echte, ‚offene Entscheidungssituationen‘ (6.8.7))