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‚Lebenspraxis‘ – ‚Praxiszeit‘ und ‚Praxisraum‘ – ‚Präsenz im Sprechakt‘ (6.5)

(Davor: Wissenschaft bezieht sich auf ‚Protokolle‘ (6.4))


Der Begriff der Lebenspraxis ist in der Objektiven Hermeneutik – wie in dieser Studie auch – so zentral, dass er hier besonders ausführlich dargelegt wird. Im Folgenden werden verschiedene Aspekte von Lebenspraxis und ihrer begrifflichen Bestimmung im Rahmen der Methodologie der Objektiven Hermeneutik herausgearbeitet.

Die Praxis von Subjekten, von der Objektiven Hermeneutik als Lebenspraxis bezeichnet, vollzieht sich in einer Praxiszeit und einem Praxisraum der Gegenwärtigkeit (vgl. Oevermann 2016, S. 68f.). Sprachreflexiv lässt sich das dann folgendermaßen ausdrücken (dies wird sodann konstitutionstheoretisch sowie methodologisch aufgegriffen):

Lebenspraxis stellt sich dynamisch durch solche Vollzüge in einem Sprechakt eines „I“, im Präsens und im Indikativ, d. h. in der Wirklichkeitsform permanent her, sie ist nicht einfach statisch da (Oevermann 2016, S. 62).

In diesem Zitat ist von einem „I“ statt „Ich“ die Rede, da zuvor die berühmt gewordene I-me-Relation nach Georg Herbert Mead abgehandelt worden war, die von der Objektiven Hermeneutik aufgegriffen wird (vgl. Mead 1934). Es wird betont, dass sich Lebenspraxis selbst permanent dynamisch und im Vollzug von Sprechakten herstellt, indem bzw. sofern diese im Präsens und Indikativ erfolgen.

Im folgenden reizt Oevermann sowohl die Konkretheit als auch die Abstraktheit und methodologische Zugänglichkeit von ‚Lebenspraxis‘weiter aus:

Der Begriff der Lebenspraxis bezieht sich also auf eine an sich dynamische Entität, die als kulturelle Amplifikation der Positionalität des biologischen Lebens gelten kann: Es ist eine Größe, die als diese Dynamik von biologischer und kultureller Lebendigkeit zugleich sinnlich in Erscheinung tritt, aber als Lebenspraxis an sich abstrakt ist, d. h. sinnlich anschaulich nicht mehr faßbar ist, aber dennoch ganz konkret als in den objektiven Sinnstrukturen ihrer Ausdrucksgestalten rekonstruierbare Fallstruktur vor uns tritt (Oevermann 2016, S. 62).

Der Begriff der Lebenspraxis ist demnach denkbar weit und allgemein, denn er umfasst all das, was um eine „Positionalität des biologischen Lebens“ an kulturellen Möglichkeiten in ihrer gesamten Breite bzw. „kulturellen Amplifikation“ vorstellbar ist. Die konkrete Ausformung einer Lebenspraxis, ihre „Bedeutung“ und ihr „Sinn“ wie es im Weiteren heißt, zeigen sich in den „Objektivationen“ die als Ausdrucksgestalten rekonstruiert oder ‚gelesen‘ werden:

Bedeutung und Sinn [sind zwar] selbst nicht wahrnehmbar [sehr wohl aber lesbar], sie [konstituieren] aber gleichzeitig genau das […], was die Lebenspraxis des Menschen, sein Handeln und dessen Objektivationen als Erfahrungsgegenstand kategorial ausmacht und von der Naturdinglichkeit menschlicher Erscheinungen systematisch unterscheidet (Oevermann 2002, S. 2f.)

Diese generalisierte konstitutionstheoretische Behauptung zur Sinnstrukturiertheit von Lebenspraxis wird zu einer grundlegenden Prämisse des methodologischen Realismus, der wiederum zu einer wesentlichen Grundlage der Methodik der Objektiven Hermeneutik wird. 


(Weiter zu: Eine ‚eigenlogische Realitätsebene‘: ‚Objektive Sinnstrukturen‘ (6.6))